„Der Bernd war einer von uns“

■ Heinrich Breloers Dokumentarspiel „Kollege Otto — Die coop-Affäre“, 20.15 Uhr, ARD

Im Herbst 1988 deckt der 'Spiegel‘ den „größten Wirtschaftskrimi der Nachkriegszeit“ auf: die coop-Affäre. Der ehemals gewerkschaftseigene Handelsriese ist bankrott, seine Chefs haben das Unternehmen systematisch ausgehöhlt. Der Finanzskandal wurde durch weitverzweigte Firmenverflechtungen jahrelang vertuscht, versierte Buchhalter haben die Bilanzen frisiert, der Aufsichtsrat hat das stillschweigend hingenommen. Gut ein Jahr später werden der Vorstandsvorsitzende Bernd Otto, der sich nach Südafrika abgesetzt hatte, und sechs weitere Mitglieder der coop-Spitze festgenommen. Im April 1991 erhebt die Staatsanwaltschaft in Frankfurt Anklage gegen die ehemaligen coop-Manager. Mitten in das noch schwebende Verfahren platzt nun die WDR/ NDR-Koproduktion Kollege Otto. Ein gewagtes Unternehmen für die ARD, die Heinrich Breloers Dokumentarspiel zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr ausstrahlt. Denn, wenn überhaupt, dürfte es noch Jahre dauern, bis der Sumpf aus gewerkschaftlicher Kumpanei und Vetternwirtschaft trockengelegt ist.

Autor und Regisseur Heinrich Breloer hat sich dem Stoff mit journalistischem Spürsinn genähert. Neben den kriminologischen Aspekten des Wirtschaftsskandals interessierte ihn vor allem die abenteuerliche Biographie jenes Mannes, der sich vom armen Färbergesellen hochgearbeitet hat zum Top-Manager mit einem Sechs-Millionen-Jahresgehalt. Da ihm der direkte Kontakt zu Bernd Otto verwehrt blieb, der Ex-coop-Chef sitzt seit Festnahmen in Fulda in Untersuchungshaft, suchte er seine Weggefährten auf. Schulfreunde wissen zu berichten, daß er schon immer „Führer“-Qualitäten und einen besonderen Gerechtigkeitssinn besaß. Mit ungebrochenem Ehrgeiz arbeitet sich der Wuppertaler Färbergeselle aus der „Hölle“ (so nannte man die Färberei dort) nach oben. Abendgymnasium, Abitur, Studium und dann die große Chance. Er wird Sekretär des früheren DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter. Damals war er noch ein glühender Verfechter der gemeinnützigen Ideale der Arbeiterbewegung, der mit Herzblut das Vorwort für ein Liederbuch schrieb. „Ich habe dem gewerkschaftlichen Lied immer große Bedeutung zugemessen“, kommentiert Vetter das Engagement seines Zöglings.

Breloer hat kurz vor dem Tod Heinz Oskar Vetters noch ein langes Interview mit dem ehemaligen Gewerkschaftschef geführt. Dieses Zeitdokument zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Aus der Fülle des Recherche-Materials hat der versierte Fernsehmann (Geschlossene Gesellschaft, Die Staatskanzlei) eine labyrinthische Dramaturgie entwickelt. Aufstieg und Fall Ottos werden chronologisch nachgezeichnet. Aber durch die geschickte Montage (Schnitt: Monika Bednarz-Rauschenbach) verschiedener Elemente wie Interviews, Spielszenen und Archivbildern wird die dokumentarische Erzählstruktur immer wieder gebrochen.

So treten die Beteiligten mal als reale Personen im Interviewpart auf, um gleich darauf in einer Spielszene von Schauspielern gedoubelt zu werden. Den machtsüchtigen Coop- Chef, von dem nur wenige „echte“ Fernsehbilder existieren, spielt Rainer Humbold (Ein Fall für zwei). In die nachgestellten Szenen von Vorstandssitzungen und internen Gesprächen in der Frankfurter coop- Zentrale plaziert Breloer zur Aufklärung einen „Informanten“ (Herrmann Lause). Er spricht die kommentierenden Sätze, die andere nicht vor der Kamera sagen wollten. Am entlarvendsten wirken die Interviewsequenzen. Vetter orakelt über Gemeinwohl und Eigennutz. Der mitangeklagte Alfons Lappas übt sich in naiver Selbstverteidigung. Die couragierte Betriebsrätin Lore Lowey, die dem coop-Aufsichtsrat angehörte und es wagte, Zweifel an den Bilanzen zu äußern und darum gehen mußte, ist grenzenlos enttäuscht.

Die Faktenfülle, mit der Breloer die Zuschauer konfrontiert, muß Uneingeweihten zwangsläufig verwirrend vorkommen, ähnlich verschachtelt wie der tatsächliche coop- Skandal. Am Ende steht statt eines Schuldigen ein Heer von verantwortungslosen, von Macht und Geld Verführten, die mit „Kollege Otto“ gemeinsame Sache machten.

Breloer enthält sich bei der Rekonstruktion jeglicher Art von Spekulation und vordergründiger Sensationsmache. Ottos Privatleben, seine Villen in Spanien, Brasilien und Südafrika kommen ebenso wenig ins Bild wie sein luxusbetonter Lebenswandel. Ein Grund für diese Zurückhaltung liegt in dem Ausstrahlungstermin noch vor Prozeßbeginn. Die Hausjustiziare des WDR mußten wie Schießhunde darüber wachen, daß sich zu diesem Zeitpunkt keine noch so kleine unbelegte Formulierung oder Vorverurteilung in die Dokumentation einschleicht. Andererseits gestand Breloer bei der Pressevorführung, daß er am schlüpfrigen Privatleben Ottos weniger Interesse hatte, als an der gesellschaftspolitischen Dimension des Falls. Jedoch, und das weiß auch Breloer genau, das eine ist nicht vom anderen zu trennen. Denn, so suggeriert sein Film am Anfang und in verschiedenen Rückblenden immer wieder, Ottos Geschichte hat auch etwas mit seiner Sozialisation zu tun. Der unterprivilegierte Arbeiter war, erst einmal in eine Machtposition aufgestiegen, besonders anfällig für die Verführungen des Kapitals.

„Er war einer von uns“, sagt die enttäuschte Betriebsrätin, „wir haben uns geduzt.“ Wie aber wird einer von „ihnen“, ein überzeugter Kämpfer für die Entrechteten, zum skrupellosen Ausbeuter? Diese Frage kann Breloers Film nicht schlüssig beantworten, will es offensichtlich auch gar nicht.

Zweifellos ist Kollege Otto ein wichtiges Zeitdokument, das bei der Beleuchtung der coop-Affäre wichtige Erkenntnisse über die Strukturen gewerkschaftlicher Unternehmensführung auf den Bildschirm bringt. Darüber hinaus ist Breloers Dokumentarspiel vor allem eine Hommage an den kriminalistischen Spürsinn der 'Spiegel‘-Rechercheure, die mit ihren Enthüllungen den Stein ins Rollen brachten. Der „Wirtschaftskrimi“, dessen Stoff sie lieferten, muß noch gedreht werden. Ute Thon