Autisten des Nationalgefühls

Die Rivalität zwischen Serben und Kroaten ist für das Schicksal Jugoslawiens ausschlaggebend. Während die Kroaten dem Vorwurf ausgesetzt sind, im Zweiten Weltkrieg Zehntausende von Menschen in KZs ermordet zu haben, spielen die Serben ihre Verbrechen herunter.  ■ VON DUNJA MELCIC

Jahrzehntelang hat man in Jugoslawien mit der Geschichte ideologisch Schindluder betrieben und die Seelen von Generationen vergiftet. Die Folge war, daß die Völker Jugoslawiens keine Wege finden konnten, untereinander aber auch mit sich selbst zu kommunizieren, sich aus der Geschichte zu verstehen und ihre Aufgaben in der Gegenwart abzustecken. Damit war die zwischennationale Katastrophe vorprogrammiert. Noch vor anderthalb Jahren durfte in der kroatischen Öffentlichkeit nichts kroatisch genannt, ohne durch das Adjektiv sozialistisch gleichsam kaschiert zu werden. Jetzt, ein Jahr nach den ersten freien Wahlen, bei denen die Kommunisten abgewählt wurden, wimmelt es nur noch von nationalen und patriotischen Symbolen. So sehr die Kroaten ihre Symbole lieben, so sehr werden sie von den Serben gehaßt.

Wo die extremistischen Teile der in Kroatien lebenden Serben, unterstützt durch obskure Kreise aus Belgrad, die Kroaten nicht tätlich angreifen, versuchen sie ihrem Zorn wenigstens durch das Entfernen und Verbrennen der kroatischen Fahnen Ausdruck zu verleihen. Als kürzlich ein populistischer serbisch-nationalistischer Führer ausrief, die Serben könnten ohne Brot, aber nicht ohne den eigenen Staat leben, wurde der Satz zum häufig zitierten Witz. Nur ist er leider wahr. Und er trifft gewissermaßen auch für die Kroaten zu.

Wo immer heute in Jugoslawien gekämpft wird, sind die Gegenstände der Auseinandersetzung in erster Linie Sprachregelungen, Symbole, Definitionen — Duftmarken also, welche die nationale Identität und ihr Revier markieren sollen. Wenn junge Kroaten beteuern, ihr Leben fürs Vaterland zu lassen, dann ist dies eine verzweifelte Antwort auf die Frustrationen einer verstörten nationalen Identität, die dazu zwingt, erst die Heimat zu finden, um dann eine lebbare Welt zu schaffen. Eine verhängnisvolle Verdrehung, die ihre wichtigste Ursache in der bewußten ideologischen Zerstörung der nationalen Identitäten durch das frühere Regime hat. Die Folge: Der Kampf um nationale Identitäten wird für lange Zeit die notwendige Neukonstituierung der Gesellschaft und die politische Willensbildung lähmen.

Serben unter Tito: historische Verbrechen verniedlicht

Zu meiner Schulzeit war der Geschichtsunterricht eines der langweiligsten Fächer. Oft wurde Geschichte von Leuten unterrichtet — wahrscheinlich mehrheitlich ehemalige Partisanen —, die ihre Ausbildung in den Armeeakademien genossen hatten. Auch der jetzige kroatische Präsident Tudjman, der nach dem Krieg zum jüngsten General in Titos Armee wurde, bekam seinen Doktortitel im Fach Militär- bzw. Kriegsgeschichte in einer entsprechenden Anstalt. Der Unterricht über jugoslawische Zeitgeschichte lief auf das Pauken unendlicher, aber ideologisch gesäuberter Details des antifaschistischen Befreiungskrieges hinaus. Der historische Stoff wurde wie eine Knetmasse der Ideologie benutzt.

Generationen ist es durch propagandistische Verdrehung der Historie des Zweiten Weltkriegs, durch Verabsolutierung des faschistischen Terrors im kroatischen Ustascha-Staat, durch Verniedlichung der Verbrechen der serbischen Faschisten (Četniki), die Massenmorde insbesondere an der moslemischen Bevölkerung in Bosnien begangen haben, und durch das Verschweigen der von Partisanen verübten Massenmorde verwehrt worden, den Weg zur historischen Wahrheit zu finden und auf dieser Grundlage ihre nationale Identität zu definieren. Das Monopol auf Geschichtsdeutung hatten in Jugoslawien nicht einfach die Kommunisten, sondern die serbischen Kommunisten. So wurde diese Geschichtsschreibung geprägt durch Enttäuschungen der serbischen Identitätsfindung, durch Traumata eines Volkes, dem es nicht gelingt, sich und die Rolle, die ihm der historische Zufall nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zuspielte, zu definieren.

Diese Geschichte wurde im Zeichen zweier Mythologeme geschrieben: Die Serben sind ein Opfervolk, und die Serben sind ein Siegervolk. Die Verbrechen der kroatischen Faschisten wurden vervielfacht und noch bis heute wird die Zahl von 700.000 bis über eine Million ermordeter Serben allein in dem Ustascha-Lager Jasenovac in der serbischen Publizistik und bei diversen politischen Veranstaltungen kolportiert, obwohl die Forschung sie als ausgeschlossen nachgewiesen hat. Übrigens hält das Statistische Bundesamt die Ergebnisse der entscheidenden Volksbefragung von 1964 noch immer unter Verschluß. Zuerst hat der in Paris lebende serbische Bevölkerungswissenschaftler Bogoljub Koćović ausgerechnet, daß auf dem Territorium des Ustascha- Staates (der um große Gebiete erweitert wurde, die heute der Republik Bosnien/Herzegowina angehören) durch den Krieg um 370.000 Serben ihr Leben verloren haben. Insgesamt liegt die relative und die absolute Zahl der serbischen Kriegsopfer höher als die der kroatischen.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Zagreber Bevölkerungswissenschaftler Vladimir Źerjavić in seiner 1989 veröffentlichten Studie, die von dem damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Slavko Goldstein herausgegeben und mit einer Einleitung versehen wurde. Herr Goldstein hat mir gegenüber gesagt, daß die Gesamtzahl der Opfer der Massenvernichtung in dem Lager Jasenovac bei 70.000 liege und daß man sie exakt ausrechnen könne. Man wisse auch genau, wieviel Juden in Jasenovac und wieviel in den verschiedenen Vernichtungslagern der Nazis umgebracht worden sind, die schlimmsten Verbrechen wurden außerhalb des Lagers begangen. Die Gesamtzahl der Kriegsopfer geben der serbische wie der kroatische Wissenschaftler in ihren unabhängig voneinander entstandenen Studien mit 1.014.000 beziehungsweise 1.027.000 an. Die infame Manipulierung der Zahl der Toten, bei der sich besonders Tito-Biograph Vladimir Dedijer hervorgetan hat, hatte einmal die Verteufelung des kroatischen Volkes als Ganzem zum Ziel — von dem man jetzt in der serbischen Presse permanent lesen kann, es sei „genozid“, besäße also eine ethnisch-biologische Neigung zum Völkermord. Zum zweiten geht es um die irrational-masochistische Vergrößerung der serbischen Opfer — und damit der Leidensgeschichte. Wie kann man sich solche Impulse und Tendenzen eines kollektiven Bewußtseins erklären?

Einen serbischen Nationalstaat hat es nie gegeben

Das serbische Nationalbewußtsein besteht aus lauter Legenden. In seiner jetzigen Form ist es Produkt der nationalistischen historischen Romane. Die Wurzeln des serbischen Nationalbewußtseins reichen aber weit zurück in die Geschichte. Sie gründen in Formen, mit denen die Serben ihre Identität im Osmanischen Reich bewahrten. Sie haben zu tun mit Rolle und Charakter der serbischen orthodoxen Kirche, die nach den Worten des englischen Historikers serbischer Herkunft Stevan K. Pawlowich „preached a religion of the nation“. Unter der Vorherrschaft des Islam, der ja keine Unterscheidung zwischen Religion und Nation macht, wurde die serbische Orthodoxie immer mehr zur Hüterin der serbischen Identität. Sie hielt die mittelalterliche serbische vorosmanische Geschichte wach und sah ihre heiligste Aufgabe in der Verbreitung des Glaubens an „a kingdom that would reunite the whole Serbian family“.

Aber auch die serbisch ethnische Identität wurde an den orthodoxen Glauben gebunden, denn dort, wo sich die Serben nach der Flucht vor den Türken ansiedelten, war der orthodoxe Glaube meistens ihr hauptsächliches Unterscheidungs- und Identitätsmerkmal. Da aber der Glaube ohnehin nicht besonders tief reichte, was die häufigen Glaubensübertritte zwischen Katholizismus, Islam und Orthodoxie in der Region beweisen, war das Grundtrauma der serbischen Identität schon zu Beginn der Neuzeit vorbestimmt. Die Krise der serbischen Identität, die sich als offener Nationalismus über lange Jahre hinweg nur deshalb nicht äußerte, weil man die Andersartigkeit der Identitäten der restlichen jugoslawischen Völker gar nicht wahr- bzw. hingenommen hatte, wurde durch Errichtung des gemeinsamen Staates der Südslawen nur unzulänglich überdeckt, um jetzt beim Zerfall der sozialistischen Föderation voll auszubrechen.

Die Serben hatten ebensowenig ihren Nationalstaat wie die Kroaten, Slowenen und so weiter. Zwar hat es ein Königreich Serbien (und ein Königreich Montenegro) vor der Vereinigung mit anderen Völkern gegeben, mit denen sie nach dem Zusammenbruch der österreichisch- ungarischen Monarchie einen gemeinsamen Staat errichteten, aber die Territorien dieses ersten modernen serbischen Staates deckten sich nicht mit den Territorien, in denen „die serbischen Orthodoxen“ lebten und allerdings von zahlreichen anderen Ethnien (Albaner, Moslems, Mazedonier) mitbewohnt wurden. Der Stachel der serbischen Identitätskrise liegt darin, daß die Serben gar nicht wissen, wie groß sie im Sinne eines Nationalstaates sind. Da sie aber ihr Selbstbewußtsein aus einem Mythos schöpfen, der ihnen erzählt, daß sie ein „großes Volk“ sind, das — nach dem nationalistischen Schriftsteller, und dem jetzigen „geistigen Vater der Serben“ Dobrica Ćosić — „in den Kriegen siegt und im Frieden verliert“, träumen sie immer noch den Traum ihrer orthodoxen Priester von vor 300 Jahren. Letztendlich will man sich über ein noch zu eroberndes Territorium definieren, weil man im Sinne einer institutionalisierten nationalen Kommunikation noch gar nicht erfahren hat, was man tatsächlich als Nation ist. Dennoch müssen die anderen Völker dieser historischen Realität Rechnung tragen.

Warum hat es in Kroatien kaum jemanden gegeben, der sich der verbrecherischen Geschichte des Ustascha- Staates offen stellte? Neulich sprach ich in Belgrad mit dem in ganz Jugoslawien beliebten Schriftsteller Milovan Danojlic, der von „den Kroaten“ mit gemischten Gefühlen sprach, um dann auf einen Aspekt dieses Themas der Vergangenheitsbewältigung zu kommen: Die Kommunisten setzten die katholische Kirche in Kroatien, vor allem durch den stalinistischen Nachkriegsprozeß gegen den Erzbischof Alojs Stepinac, so unter Druck, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als die Reihen zu schließen. So sei die Kirche ihrer christlichen und moralischen Aufgabe nicht nachgekommen, jene wenigen katholischen Priester, die sich an der Verfolgung der Serben in Kroatisch Ustascha stark beteiligt hatten, zu verurteilen. Druck durch Verfolgung, wie die maßlose Übertreibung der Schuld gegenüber dem serbischen Volk durch die Serben, geben plausible Erklärungen ab. Aber es gibt Gründe, die tiefer liegen.

Die Kroaten sind durch ihre „Schuld“ frustriert, verfügen aber über keine eingeübten Mechanismen, durch vernünftige Kommunikation damit fertig zu werden. Das zeigt sich einmal an dem verbreiteten Schweigen zu Jasenovac und zum anderen an der ebenso verbreiteten Angst der Kroaten vor sich selbst, der Befürchtung, man könnte auf die sich häufenden Provokationen serbischerseits mit unverhältnismäßiger Grausamkeit reagieren. Die geschichtliche Konstitution des kroatischen Nationalbewußtseins verlief auf so merkwürdigen Wegen, daß sie keine besonders stabile nationale Identität als Folge haben konnte. Der stabilste Faktor dieser Identität ist — im Unterschied zu der serbischen — das Territorium mit seiner langen Tradition der Rechts- und kirchlichen Institutionen. Außer jener südöstlichen Teile, die dem osmanischen Reich einverleibt wurden, behielt Kroatien eine weitgehende territoriale Kontinuität über Jahrunderte hinweg, obwohl auch dieses Territorium durch italienische, österreichische und ungarische Herrschaft geteilt war.

Es mag paradox anmuten, daß man in Kroatien in jenem Ban Jelačić den Vater der Nation sieht, der auf der kaiserlichen Seite gegen die ungarische Revolution von 1848 kämpfte, die angeführt von dem Gründer der Reformbewegung Lajos Kossuth die Unabhängigkeit Ungarns anstrebte. Eine Berechtigung hat dies darin, daß Kroatien gleichsam als Belohnung von den Habsburgern eine gewisse Autonomie als eigenes Kronland bekam, der territoriale Stabilitätsfaktor der kroatischen Identität also verstärkt wurde.

Kroaten und Serben leben von jeher ohne Verständigung miteinander

Gleichzeitig sieht man bereits hier, daß sich das nationale Bewußtsein nicht auf der Schiene politischer Selbstfindung konstitutierte, denn sonst hätte man das Gemeinsame gerade mit der Unabhängigkeits- und Reformbewegung Kossuths herauszufinden versucht. Dies sind gleichzeitig Marksteine des tiefen Unterschieds zwischen der kroatischen und der serbischen nationalen Identität. Kroatien ist sich seiner geschichtlichen Territorien gewiß (trotz einer Million Kroaten, die in Herzegovina leben und der Minderheit in Wojwodina), Serbien nicht. Es beansprucht sowohl die Territorien, auf denen die Serben seit geraumer Zeit mehrheitlich nicht mehr leben als auch die, wo Serben seit neuester Zeit leben.

So waren auch die Erwartungen bei der Gründung des gemeinsamen Staates 1918 bei den Kroaten und den Serben grundverschieden. Das Ziel bei der Errichtung des gemeinsamen Staates der Südslawen war kroatischerseits, größere Selbständigkeit und Autonomie für sein Territorium zu erlangen als man in der KuK-Monarchie hatte, serbischerseits hingegen, ging es darum, das Kernland mit der serbischen Diaspora zu vereinigen. Dieser Grundkonflikt zweier auf verschiedenen historischen Wegen erwachsenen nationalen Identitäten bildet den explosiven Hintergrund der heutigen Situation. Zwei Ansprüche stehen sich gegenüber: die Forderung, aus der Republik Kroatien ohne Grenzveränderung einen unabhängigen Staat zu machen, und der Anspruch, daß alle Serben in einem Staat leben müssen und nirgendwo als Minderheit leben dürfen.

Dem Stabilitätsmoment des kroatischen Nationalbewußtseins steht eine tiefe Unsicherheit gegenüber, die daraus rührt, daß sich die Nation nicht durch Verständigung über sich selbst gebildet hat. Die Kommunikationslosigkeit herrscht sowohl auf der horizontalen Ebene der regionalen Mentalitäten als auch auf der vertikalen Ebene zwischen den politischen beziehungsweise kulturellen Eliten und der einfachen Bevölkerung. Ein guter einfacher Kroate hat bisher von keinem Schriftsteller was gehalten, auch wenn der kroatisch war.

Weil weder die Gesellschaft noch die kollektive Identität sich über gegenseitiges Verständigen gebildet haben, wird die Wichtigkeit der Aufgabe nicht erkannt, sich im Gespräch mit der eigenen Geschichte und durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu erklären und zu verstehen. Statt dessen ergeht man sich in der nationalen Geschichtsschreibung als einem erbaulichen Genre, wofür die nationale Geschichtsmetaphysik des jetztigen Präsidenten von Kroatien geradezu exemplarisch ist. Dennoch gibt es in Kroatien und in Serbien Ansätze, aus dem gleichsam autistischen Nationalgefühl auszubrechen. Dazu gehört neuerdings auch eine ernstzunehmende wissenschaftliche Forschung zur Zeitgeschichte, die allerdings nur ansatzweise in der Öffentlichkeit präsent ist. Was man braucht, ist Zeit.