Aufstände sind besser als Schweigen

■ Die Revolte der Ausgeschlossenen ist die neue soziale Frage im Europa des ausgehenden Jahrhunderts

Francois Dubet veröffentlichte 1988 die Studie über Vorstadt-Jugendliche „La Galere — jeunesse en survie“. Er leitet das Soziologische Institut der Uni Bordeaux II und hat mehrere Bücher zusammen mit Alain Touraine veröffentlicht.

taz: Überall kracht's. In Brüssel, Brixton, Berlin und der Banlieue von Paris. Ist die Gleichzeitigkeit der Unruhen Zufall oder gibt es vergleichbare Ursachen für das Phänomen?

Francois Dubet: Man darf nicht glauben, daß diese Probleme nur Folgen von Armut und urbanem Verfall wären. Vaulx-en-Velin (bei Lyon, wo vergangenes Jahr zum ersten Mal größere Jugendunruhen ausbrachen, d. Red.) war eine gut in Schuß gehaltene Neubausiedlung. Zu Problemen kommt es erst, wenn wir es außerdem mit Prozessen sozialer Ausgrenzung zu tun haben. Die Lebenssituation dieser Jugendlichen wird doch ausschließlich von der Polizei und Sozialarbeitern bestimmt, und nicht mehr durch politische oder assoziative Zusammenhänge. Die Revolten sind die Reaktion darauf, und nicht einfache Reflexe der Armut. Die Arbeiterklasse lebte lange in viel schlechteren Wohnungen — aber es gab einen Rückhalt im politischen System, es gab Assoziationen.

Haben denn im Fall Frankreich die Bewegung der „Beurs“ und „SOS-Racisme“ an der Sprachlosigkeit der Ghettos nichts geändert?

SOS hatte einen gewissen Einfluß in den Vorstädten zu Beginn der Beurs-Bewegung, 1983 und 1984. Seither haben sich beide Bewegungen voneinander getrennt. Heute hat SOS einen Kopf, aber keine Basis mehr. Der sehr demokratische Diskurs von SOS-Racisme kommt nicht an. Nicht weil er demokratisch ist (der antidemokratische mancher religiösen Gruppen findet ebensowenig ein Echo), sondern wegen der sozialen Kluft zwischen SOS- Leuten und Jugendlichen der Banlieue.

Aber das eigentlich Dramatische daran ist, daß es überhaupt keine Basis mehr gibt. In Frankreich gibt es keine Basisbewegung von jungen antirassistischen Einwanderern mehr. Die jetzigen Demonstrationen und Aktionen sind sporadisch und unorganisiert.

Besteht die Gefahr, daß die Aufstände zu ethnischen Auseinandersetzungen werden?

Ich glaube nicht. Denn obwohl die meisten dieser Jugendlichen sozial sehr marginalisiert sind, sind sie kulturell sehr stark integriert. Wir dürfen auch nicht übersehen, daß zwei von drei jungen Maghrebinern sich in einem Prozeß sozialer Integration befinden. Das heißt, sie werden einen regulären Arbeitsplatz finden. Und nicht nur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Schülerbewegung im Herbst wurde zu einem großen Teil von Beurs getragen, was beweist, daß es sich nicht um eine marginalisierte Gruppe handelt. Hier funktioniert die Integration, langsam — aber immerhin. Das Problem sind die restlichen 33 Prozent.

Sind die Gewerkschaften in der Lage, sich der neuen sozialen Frage anzunehmen?

Nein. Sie sind zu Interessenvertretern der gewerkschaftlich Organisierten geworden, jenen mit einem relativ sicheren Arbeitsplatz. Unsere Gewerkschaften verteidigen heute die Interessen der Angestellten im öffentlichen Dienst. Sie müssen sich wehren, wenn zur Solidarität mit den Ausgeschlossenen aufgerufen wird.

Die Regierungen reagieren auf die Aufstände mit Städtebauprogrammen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Was kann man noch tun?

Was tun gegen die Entstehung einer Welt der Ausgeschlossenen? Heute haben wir eine enorme Mittelklasse, zu der ein Teil der Arbeiterklasse gehört, und eine breite Schicht der Ausgeschlossenen, die sporadische Einkommen haben oder von Sozialhilfe leben. Was tun? Erstens: Ohne einen großen politischen Willen kann man gar nichts machen. Die Frage des sozialen Ausschlusses muß genau die gleiche Bedeutung erhalten, die die soziale Frage vor 50 oder 30 Jahren hatte. Mit allen Konsequenzen, also empfindlichen Opfern für die Mittelklassen, was Einkommen und Arbeit angeht. Zweitens: Nicht die staatliche Fürsorge muß ausgeweitet werden, sondern die Möglichkeiten dieser Gruppen, sich zu wehren. Sie müssen in der Lage sein, zu protestieren und Konflikte auszutragen. Die Aufstände sind schrecklich und keineswegs romantisch, die Kids verhalten sich wie die Barbaren, klauen, prügeln, demolieren. Aber sie haben einen Vorteil: Sie machen die Situation unerträglich für die Regierung. Insofern sind die Aufstände besser als das Schweigen. Mir sind Aufstände lieber als Stille und Fürsorge. Interview: Alexander Smoltczyk