Die deutsche Frage

■ Ein Votum für Berlin muß kein Votum gegen Europa sein

Die Hauptstadtdebatte wäre für das Ausland die bestmögliche Einführung in die noch weitgehend ignorierte deutsche Frage. Der aufgeklärte Europäer würde zuerst begreifen, warum Berlin als einziges brauchbares Wahrzeichen eines deutschen Vaterlandes gelten kann. Er würde aber danach verstehen, daß Berlin kein Paris der Deutschen ist, weil die „schwierige Nation“ auf die seit 1848 schon mehrmals gestellte Hauptstadtfrage keine eindeutige Antwort weiß.

Genau wie die historischen, lassen sich alle psychologischen und ökonomischen Argumente endlos widerlegen, so daß der unbeteiligte Franzose sehr gut beraten wäre, sich von dem Streit fernzuhalten. Wie Rudolf Augstein energisch und eindeutig erklärt hat: Was „das Ausland“ meint, sollte „überhaupt nicht ins Gewicht fallen“.

Dieser Krieg der Hauptstädte berührt aber auch Fragen, die sehr wohl mit unserem immer noch beschworenen grenzlosen Europa zu tun haben. Hier sind nicht die national-historischen und volkswirtschaftlichen Spekulationen der Lokalpatrioten gemeint, sondern die letztendlich einzige ernst zu nehmende Frage: Muß das europäische Deutschland des 21. Jahrhunderts sich als Nation revitalisieren („normalisieren“), indem es sein Herz wieder schlagen läßt?

Von Glotz, Habermas und vielen Bundesrepublikanern haben wir gehört, es sollte nichts unternommen werden, was die wertvollsten Errungenschaften der Föderation gefährden könnte. In diesem Zusammenhang haben wir für uns so seltsame Begriffe wie „Verfassungspatriotismus“ oder „Abschied von der Staatsnation“ gelernt. Plötzlich aber klingen diese einsamen Glaubensbekenntnisse für ein „Europa der Regionen“ fast schon wie ein Schwanengesang. Denn jetzt scheint die große Zeit des Kampfes gegen den „Provinzialismus“ gekommen; nicht nur bei Karl-Heinz Bohrer, sondern auch bei den möglichen Architekten des Potsdamer Platzes und bei all denen, die das Deutschland Möllemanns und der Fußgängerzone nicht mehr ausstehen können.

Hier spricht nicht der in der 'FAZ‘ so oft geschilderte Franzose, der partout die Deutschen kleinhalten will. Ein Votum für Berlin muß nicht ein Votum gegen Europa sein. „Das Ausland“ und sicherlich die große Mehrheit der jungen Franzosen hält sowieso einen Umzug nach Berlin für selbstverständlich. Gerade deswegen wäre ein eindeutiges Pro-Bonn- Votum eine verwirrende Überraschung mit interessanten Nebenwirkungen. Vielleicht würden dann einige Franzosen wirklich glauben, Europa brauche in Zukunft keine nationalen Hauptstädte mehr; vielleicht würde der Abbau des Zentralismus ein bißchen ernster genommen. Die Selbstlosigkeit hat aber ihre Grenzen, und man kann natürlich nicht von den Deutschen erwarten, daß sie in dieser Frage als Therapeuten der Franzosen fungieren.

Einige Berlin-Befürworter haben mit amüsiertem Lächeln den europäischen Träumern empfohlen, sich auf der Champs Elysées am kommenden 14.Juli die Siegesparade unserer Golfkämpfer anzuschauen, um dort zu prüfen, wie reif Frankreich für ein Europa der Regionen ist. Also gut, wir werden in absehbarer Zeit kein gemeinsames Sicherheitssystem entwickeln können, und auch die deutschen Soldaten werden gegen den künftigen Saddam Hussein kämpfen müssen. Offen bliebe dann nur noch, ob die Bundeswehr Unter den Linden oder auf dem Kudamm paradieren sollte — vom wiedererrichteten Berliner Schloß bis zur Wilhelmstraße? Oder lieber auf Deutschlands Broadway zwischen Café Möhring und Schaubühne?

Ein taz-Beitrag von Alain Auffray, Berlin-Mitarbeiter von 'Libération‘