Die Revolution geht weiter

Ein Gespräch mit Ernesto Cardenal  ■ Von Stefan Koldehoff

Frage: Ein berühmtes Foto zeigt Sie, wie Sie 1983 beim Staatsbesuch in Managua vor dem Papst knien. Würden Sie diesen Kniefall heute noch wiederholen?

Ernesto Cardenal: Damals war ich Kulturminister von Nicaragua, heute könnte es gar nicht mehr dazu kommen. Der Papst würde mich heute gar nicht mehr empfangen.

Er müßte Sie doch als Priester empfangen...

Nein, das würde er nicht. Damals war das ganze diplomatische Corps anwesend, alle Minister standen dabei. Das war nur eine diplomatische Zeremonie.

Wurde denn inzwischen das päpstliche Verbot aufgehoben, nach dem Sie die Sakramente nicht mehr spenden dürfen? Jetzt sind Sie doch kein Minister mehr.

Die kanonische Suspension wird immer noch aufrechterhalten. Das Verbot war nicht nur aufgrund meines Ministeramtes ausgesprochen worden, sondern auch gegen das Mitglied der Sandinisten. Der Vatikan hat nach wie vor eine Menge dagegen, daß ich als Priester eine Revolution unterstütze. Und ich werde weiterhin die Revolution unterstützen.

Tut das auch die Kirche in Nicaragua?

Es gibt wie in aller Welt auch in Nicaragua zwei Kirchen: eine progressive und eine reaktionäre. Und so gab es auch in Nicaragua einen Teil der Kirche, der für die Revolution war, und einer war dagegen. Vor allem der Kardinal und die Bischöfe waren gegen die Revolution, und die Priester teilten sich in zwei etwa gleich große Blöcke. Aber der größte Teil der Laienchristen in Nicaragua stand auf der Seite der Revolution.

Hat sich in dieser Einstellung nach den letzten Wahlen, die das bürgerliche Parteienbündnis unter Violeta Chamorro gewonnen haben, etwas verändert?

Ich glaube nicht. Die Wahlen zeigen nur einen kleinen Vorsprung für die Siegerpartei. Es gab 41 Prozent für die sandinistische Front und für die anderen Parteien 53 Prozent. Ich glaube, dieser kleine Vorsprung ist zustandegekommen, weil die USA Druck ausgeübt haben und die Menschen den Krieg satt hatten. Ich glaube nicht, daß sich daraus ablesen läßt, die Mehrheit der Bevölkerung wäre nicht auf Seiten unserer Revolution gewesen.

Führt die neue bürgerliche Regierung die von den Sandinisten begonnene Alphabetisierungskampagne fort?

Es wurde alles eingestellt. Eigentlich sind alle Dienstleistungen für die Bevölkerung, die wir eingeführt haben, drastisch reduziert worden. Es gibt Krankenhäuser ohne einen Arzt, Medizin fehlt. Die Menschen müssen jetzt für alles bezahlen. Eine große Zahl von Lehrern ist aus dem Schuldienst ausgeschieden, weil das Gehalt einfach so niedrig war, daß sie davon nicht leben konnten. Die Zahl der Analphabeten, deren Quote wir von 60 auf 12 Prozent gesenkt hatten, wächst wieder, weil die neue Regierung sich gar nicht darum kümmert. Heute wächst wieder eine ganze Generation von Kindern auf, die weder Lesen noch Schreiben lernt.

Gibt es Projekte im Kleinen, die die frühere Arbeit fortsetzen?

In einigen Bereichen schon. Es gibt eine Reihe von nicht der Regierung unterstellten Organisationen, und es gibt Regionen, in denen die Frente die Wahl gewonnen hat und ihre Politik fortsetzen kann.

Was tun diese Organisationen?

Mein Bruder Fernando Cardenal, der frühere Erziehungsminister, hat beispielsweise ein Institut gegründet, um die Alphabetisierung unter den Bauern weiterzuführen. Das ist ein Bereich der Politik, den die Regierung gar nicht beachtet. Ich selber stehe einer internationalen Kulturorganisation vor, die in Granada in einem Monat auch ein eigenes Gebäude eröffnen kann. In diesem Haus werden Funktionen wahrgenommen werden, die früher das Kultusministerium erfüllte. In Granada wird es außerdem Tanz, Theater und Ausstellungen geben, außerdem wird eine große Bibliothek eingerichtet.

Spüren Sie trotz des großen Umbruchs in Europa noch genügend Solidarität und materielle Unterstützung?

Es ist weniger geworden. Im Falle Nicaraguas hängt das allerdings damit zusammen, daß viele Solidaritätsgruppen geschrumpft sind oder resigniert haben, weil sie dachten, mit der verlorenen Wahl sei auch die Revolution verloren. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, all jenen klarzumachen, daß die verlorene Wahl zwar ein Rückschlag war, aber kein Zusammenbruch. Die Revolution ist unterbrochen, aber sie geht weiter. Wir haben der Welt zum ersten Mal gezeigt, daß eine Revolutionsbewegung auf ganz demokratischem Weg Wahlen verlieren kann und trotzdem nicht am Ende ist. Es gibt einige Sandinisten, die aufgegeben haben und sich anders orientieren, und es gibt andere, die nach wie vor ihre Projekte militant weiterbetreiben und in der Partei aktiv sind. Für eine Partei in der Opposition engagiert man sich nicht so stark wie für eine Regierungspartei. Viele sind aber nach wie vor so enthusiastisch für die Revolution, wie sie das vor dem Sieg gegen Somoza 1979 waren.

Tomás Borge, der ehemalige Innenminister der Sandinisten, hat einmal die Poesie als das wichtigste Exportgut Nicaraguas bezeichnet. Wird heute noch Poesie exportiert?

Natürlich. Denken Sie nur an Tomás Borges eigene Gedichte, die in vielen Ländern erscheinen, oder an die Romane und Gedichte von Gioconda Belli. Dann denke ich an die Bücher, die der Vizepräsident Sergio Ramirez geschrieben hat. Vor drei Monaten erschien sein neues Buch. Er schreibt bereits an einem neuen Roman. Viele andere Schriftsteller machen weiter.

Ist es schwieriger geworden zu schreiben und zu veröffentlichen?

Für Nicaragua ist es tatsächlich schwieriger geworden, weil die ökonomische Situation schwieriger geworden ist. Aber international hat das eigentlich keine Rolle gespielt. Der US-Verlag von Gioconda Belli allerdings hat einen Tag nach der verlorenen Wahl Bellis Vertrag gekündigt und wird ihren Roman Bewohnte Frau nun nicht veröffentlichen.

Gibt es wieder eine Zensur in Nicaragua?

Nein. Wir haben eine demokratische Regierung, die keine Repressionen ausübt. Es ist eine kapitalistische Regierung, aber sie respektiert die Menschenrechte. Außerdem sind Polizei und Heer noch wie unter der sandinistischen Regierung, deshalb verfügt die Regierung gar nicht über die Instrumente für eine Repression.

Eine Zensur kann auch ökonomischer Natur sein...

Ja natürlich, die gibt es. Die Tageszeitung 'El nuevo diario‘ zum Beispiel, die in Opposition zur Regierung steht, bekommt keinerlei Anzeigen von regierungsnahen Firmen.

Frau Chamorro besitzt selbst auch eine Zeitung...

Natürlich bekommt sie Anzeigen, denn das ist ja die Regierungszeitung. Und die setzt alles daran, die anderen Zeitungen kaputtzumachen. Darum spreche ich von einer kapitalistischen Demokratie.

Woran arbeiten Sie gerade?

Mein neues Buch wird gerade ins Portugiesische und Englische übersetzt. Das Werk heißt Cantico Cosmico. Das Buch hat 600 Seiten und faßt mein Denken zusammen: autobiographische Aspekte, aber auch theologische, mystische, politische Dimensionen. In vielen Teilen hat es den Charakter einer wissenschaftlichen Poesie, die sich mit Mikrokosmos und Makrokosmos befaßt und den Versuch unternimmt, alles zu einer wissenschaftlichen Poesie zusammenzufassen. Sie versucht, politische Wissenschaft und Poesie in eine Form zu bringen und mit Mystik und Revolution zu vereinbaren.

Müssen Sie selbst als Marxist nicht resignieren, wenn auf der ganzen Welt kommunistische Systeme zusammenbrechen?

Für mich hat Kommunismus nie irgendeine Blockbildung bedeutet, deshalb kann ich auch nicht sagen, daß der Marxismus gescheitert ist. Die Gesellschaft, die Marx propagiert hat, ist eine soziale und brüderliche ohne Egoismus. Das sind auch die Ziele des Christentums. Das hat nichts mit bürokratischen Systemen zu tun, in diesen Ländern hat es keinen wahrhaftigen und selbstbestimmten Sozialismus gegeben. Sozialismus muß in meinen Augen immer demokratisch sein. Was im Ostblock stattgefunden hat, war eine Perversion des Sozialismus. Auch das Christentum hat Pervertierungen erlebt, trotzdem gibt es viele Christen. Wir müssen Wege suchen, den Sozialismus menschlich zu realisieren, so wie er eigentlich gemeint war. Es bleibt dabei, daß es nur die beiden Optionen Kapitalismus oder Sozialismus gibt. Der Kapitalismus macht große Propaganda mit dem Scheitern des Sozialismus, aber das Scheitern des Kapitalismus geht viel weiter. Er macht nur zehn Prozent der Weltbevölkerung reich. Für die restlichen 90 Prozent und vor allem für die Dritte Welt aber ist der Kapitalismus eine Katastrophe. Deshalb bleibt meine Option ein Sozialismus, der die Menschenrechte respektiert — ein Sozialismus mit Christen.

Sehen Sie die Gefahr, daß es noch einmal eine gewaltsame Revolution in Nicaragua geben muß?

Ich glaube wie die meisten Menschen in Nicaragua nicht, daß wir noch einmal in eine Kriegssituation kommen. Das ganze Volk ist unendlich kriegsmüde, selbst die Contras wollen ihn nicht mehr. Natürlich gibt es immer noch einige Extremisten auf beiden Seiten, die nach wie vor den bewaffneten Konflikt wollen, und sie bekommen Hilfe von den USA. Das Ziel dieser Gruppe ist, in Nicaragua Schluß mit allem zu machen, was mit dem Sandinismus zu tun hat — und mit allem, was Freiheit bedeutet. Diese Ansichten sind aber nicht populär, sie finden niemand, der bereit ist, die Waffe in die Hand zu nehmen. In Nicaragua wird weder die Regierung noch die Opposition zu den Waffen greifen.