DEBATTE
: Verfassungslyrik

■ Die Debatte um eine Verfassungsreform reproduziert die Strukturen einer politischen Kultur, die selbst durch eine Reform abgelöst gehörten

In 40 Jahren erfüllte das Grundgesetz leidlich seine Funktion. Nach 42 Jahren scheint wegen der Vereinigung beider Teile Deutschlands eine mehr oder minder große Revision notwendig zu sein — so suggerieren jedenfalls SPD, Bündnis 90/Grüne, so suggeriert insbesondere das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder“. Im Mai 1991 hat das Kuratorium einen Verfassungsentwurf vorgelegt, der eine umfassende Verfassungsreform bezweckt.

Soziale Grundrechte als Staatsziele?

Im Grundrechtsteil sollen soziale Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherung, das Recht auf Wohnung, aufgenommen werden. Strukturell ähneln die im Verfassungsentwurf verbürgten sozialen Grundrechte Staatszielen. So heißt es in Art.12a (Recht auf Arbeit): „Der Staat schützt das Recht jedes Menschen auf Arbeit, trägt zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen bei und sichert einen hohen Beschäftigungsstand, soweit dies sozial verantwortbar und ökologisch vertretbar ist.“ Die Differenz zu „reinen“ Staatszielen ist, daß mit der Ausweisung als Grundrecht die individuelle Klagemöglichkeit verbunden ist. Mit Staatszielen teilen sie die inhaltliche Allgemeinheit, um nicht zu sagen Unbestimmtheit. Wie sind soziale Grundrechte in diesem Sinne zu bewerten? Verfassungsbestimmungen dieser Art tragen im hohen Maße zur Verrechtlichung von Politik bei, wobei der inhaltliche Ertrag, der durch Gerichte beschert werden wird, im Verhältnis zu dem Ertrag, den die Politik erwirtschaftet, nicht größer sein dürfte.

Explizit als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden soll als Art.20 (Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen): „Die natürlichen Lebensgrundlagen gegenwärtiger und künftiger Generationen stehen ebenso, wie die Natur um ihrer selbst willen, unter dem besonderen Schutz des Staates.“ Mit dem Entwurf teile ich das politische Anliegen, das ökologische Belange eine starke Rolle in der Politik spielen sollen. Ich wage zu bezweifeln, ob diesem Anliegen durch Schutz der „natürlichen Lebensgrundlagen“ Rechnung getragen werden kann.

Was inhaltlich „natürliche Lebensgrundlagen“ sind, ist begrifflich unklar und diese Unklarheit ist nicht dadurch beseitigt worden, daß das gesamte politische Spektrum neuerdings diesen Begriff verwendet. Was als „natürliche Lebensgrundlagen“ firmiert, ist alles andere als natürlich, vielmehr Produkt von menschlicher Auseinandersetzung mit der Natur. Für das Nordsee-Wattenmeer und die Alpenregion beispielsweise gibt es keinen gemeinsamen Nenner im Tun oder Unterlassen, der den Namen „natürliche Lebensgrundlagen“ trägt. Erkennbar versucht der Verfassungsentwurf die Dominanz der Exekutive zu mindern. So sollen Bürgerbewegungen und Bürgerinitiativen geschützt und gefördert, sollen Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid verfassungsrechtlich verankert, soll die Rolle der Opposition im Grundgesetz festgelegt, das Verfahren bei Untersuchungsausschüssen konkretisiert werden, sollen die Enquete-Kommissionen und ein Technikfolgenausschuß Aufnahme ins Grundgesetz finden, sollen die Aufgaben des Petitionsausschusses erweitert werden, soll ein „Ökologischer Rat“ bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken. Trotz oder wegen der Fülle der Änderungsvorschläge bleibt die „Philosophie“ unklar: Einerseits soll das Grundgesetz durch eine Fülle von Grundrechten und Staatszielen substantiell aufgeladen, andererseits sollen Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden. Der hier angelegte Konflikt zwischen politischer Sachentscheidung und demokratischer Willensbildung wird zugunsten der „Sache“ entschieden. Ich halte diese Auffassung wegen der Verkürzung von Demokratie für falsch.

Die Reformdebatte als Vehikel

Es ist sicherlich richtig: Meine Bedenken, die ich auch an anderen Bestimmungen des Entwurfs konkretisieren könnte, könnten durch Umformulierungen und Präzisierungen relativiert oder ausgeräumt werden; es könnte sein, daß nach Diskussionen meine Bedenken gemindert würden oder sich als gegenstandslos erweisen. Es bliebe jedoch — so vermute ich — auch danach ein Unbehagen, das die Gesamtanlage des Projekts Verfassungsreform betrifft. Ich frage nach dem Sinn eines politischen Unternehmens, welches von einem politischen Spektrum getragen wird, das allenfalls die Bürgerbewegungen, die Grünen und die SPD umfaßt. Ersichtlich hat dieses Spektrum keine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, die erforderlich wäre, um den Verfassungsentwurf des Kuratoriums in der vorliegenden oder in anderer Form zu verabschieden. Das Paradoxe ist, daß die an sich naheliegende Frage nach den Mehrheiten von den Protagonisten der Verfassungsreform nicht gestellt wird.

In diesem Paradoxon scheint mir die eigentliche politische Problematik des Verfassungsentwurfes zu liegen. Meine These ist, daß die Ideen einer Verfassungsreform von höchst unterschiedlichen Vorstellungen gespeist wird: Die einen möchten im parteipolitischen Gerangel gegenüber der Regierungskoalition Pluspunkte sammeln, indem sie sich in der Öffentlichkeit als sozialer, gerechter und demokratischer hinstellen. Das Ziel ist mithin nicht die Veränderung der Verfassung, sondern die Ablehnung einer Verfassungsänderung durch die Regierungskoalition. Andere wollen anhand einer Verfassungsdiskussion das beweisen, was sie schon immer wußten, daß nämlich Deutschland ein ziemlich schlimmes Land ist. Früher wußten sie die Geschichte auf ihrer Seite, heute ist es die Idealverfassung. Dritte wollen die „Errungenschaften“ der ehemaligen DDR, die in der Realität zerstoben sind, wenigstens als Traum in der Verfassung bewahren. Wieder andere wollen mittels der Verfassungsreformdebatte klarmachen, daß zwar einerseits Bürger und Bürgerinnen am 2.Dezember 1990 die Regierungskoalition gewählt haben, daß aber andererseits „an sich“ das Volk ganz etwas anderes will.

Die disparaten Vorstellungen — die sich auch äußern in Detailregelungen, die nicht zueinander passen — eint, daß die Debatte um Verfassungsreform bloßes Vehikel ist, um anderes zu beweisen. In diesem Sinne ist die Debatte eine Form symbolischer Politik in höchster Potenz. Nun mag es sein, daß Menschen Symbole brauchen und daß die Verankerung von Symbolen in den Köpfen von Menschen realitätsprägend ist. Nach meiner Einschätzung ist allerdings Politik bereits jetzt durch ein exorbitantes Maß an symbolischer zu Lasten praktischer Politik charakterisiert. Deswegen schließe ich: In der Debatte um die Verfassungsreform reproduzieren sich die Strukturen einer politischen Kultur, die, wenn es möglich wäre, was es nicht ist, mittels einer Verfassungsreform abgeschafft werden müßten.

Schmieröl dieser Debatte ist die Verfassungslyrik. Die Debatte ließe sich kaum führen, wenn klar wäre, daß eine Verfassungsreform, die zum Beispiel das Recht auf Arbeit verwirklicht, keineswegs geeignet wäre, die aktuellen Probleme von Massenarbeitslosigkeit zugunsten der Arbeitslosen zu beeinflussen. Verfassungslyrik ist Ausdruck einer Politik, die keine Alternative zur herrschenden Politik anbieten kann.

Ich kenne einen Einwand gegen meine Position. Danach sei bei der Verfassungsreformdebatte nicht entscheidend, ob eine Verfassungsreform durchgeführt wird, sondern ob eine gesellschaftliche Diskussion stattfindet. Die Vorstellung, eine Verfassungsreformdebatte sei ein geeignetes Mittel zur Pädagogisierung und/oder Politisierung des Volkes, ist mir ein Greuel, ganz abgesehen davon, daß ich den Erfolg dieses Mittels bezweifle.

Die Debatte um Verfassungsreform ist am Ende, bevor sie begonnen hat. Begonnen hat eine Diskussion im Raumschiff Politik. Ich wünsche allen Passagieren einen guten Flug. Uwe Günther

Der Autor ist Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Republikanischen Anwaltsvereins