Scheibengericht: John Dowland/Bob Ostertag/J.-Ph.Rameau/Charlie Kunz/Johannes Brahms

JOHN DOWLAND

Songs to my Lady/English Songs and Lute Pieces

harmonia mundi/Helikon QUI 903012 (CD)

Der Text von In Darkness let me Dwell scheint von Dowland selbst zu sein. Er lautet (in der Übersetzung): „Im Dunkel laß mich wohnen, der Boden Kummer sei, / Das Dach Verzweiflung, abzuschirmen das heitre Licht, / Die Wände schwarzer Marmor, der feuchtgehalten weint, / Meine Musik ein Höllenlärm, der sanften Schlaf verbannt. / So mit meinem Schmerz vermählt, gebettet in mein Grab, / O laß mich lebend sterben, bis der Tod sich naht.“

Die Musik ist nicht lustiger. Dort wo man die Auflösung einer Dissonanz erwartet, tut sich entweder eine neue auf, oder die Musik weicht in einen Trugschluß aus. Für einen Klageton sprengt Dowland auch das feste Taktgefüge. Um am Ende die obligatorische Schlußkonsonanz zu vermeiden, wiederholt Dowland den ersten Halbvers — man erwartet eine zweite Strophe —, und dann fällt Esswoods Kontratenor schlicht ins Leere. Dowland (1563-1626) soll Melancholiker gewesen sein. Heutige Musikfreunde können sich glücklich schätzen.

BOB OSTERTAG

Sooner or Later

RecRec Music/EFA 14567 (CD)

Der Junge steht kurz vorm Stimmbruch. Wenn er sich nicht unter Kontrolle hat, in den Momenten, wo ihn der Affekt zu überwältigen droht, kippt seine Stimme ins Kopfregister, und er wimmert wie ein kleines, verzweifeltes und ängstliches Kind. Aber das passiert ihm nur am Anfang seiner Rede, ein-, zweimal, und dauert höchstens eine Sekunde. Sehr schnell faßt sich der Junge wieder.

Es handelt sich um eine Tonsequenz aus einem Propaganda- oder Dokumentarfilm des „Filminstituts des Revolutionären El Salvador“. Der Vater des Jungen, der von der Nationalgarde erschossen worden ist, wird beerdigt. Der Junge wendet sich offensichtlich an umstehende „Companeros“: „Lieber Papa. Bastarde! Wenn ich meinen Vater sehe, Companeros, fühle ich mich, als ob ich eine Kugel in meinem Herzen hätte. Lieber sterbe ich für eine gerechte Sache, Companeros, als daß ich als Dieb ende. Mein Vater hat mir gesagt... er war ein Kämpfer... ein Kämpfer für unser Volk. Er hat mir gesagt, daß ich kein Taugenichts werden soll, daß ich fleißig und tapfer sein soll bis zum Endsieg derer, die überleben. Früher oder später werde ich sein Blut rächen.“

Für den Jungen sind das keine Phrasen — er sagt keinen Text auf, er redet spontan, und er glaubt, was er sagt. Und wenn etwas „erschütternd“ ist an diesem Dokument, dann ist es diese Diskrepanz zwischen dem abgegriffenen Pathos des Dikurses und dem echten der Rede. Außer der Stimme ist noch das stumpfe und regelmäßige Geräusch der Schaufel zu hören, mit der das Grab ausgehoben wird. Im Hintergrund summt eine Fliege.

„Die Wahl der Klangquelle ist nicht zufällig“, schreibt Ostertag im Beiheft der CD, „sondern hat viel mit den letzten zehn Jahren meines Lebens zu tun, die ich zum großen Teil in und um El Salvador verbracht habe. In dieser Zeit habe ich viel Tod gesehen. Und in dieser Kultur, die sehr katholisch und politisiert ist, wird der Tod auf alle möglichen Weisen ausgeschmückt, um ihn heldenhaft zu machen und ihm einen Sinn zu geben. Er wird als Gottes Wille oder unbedeutend dargestellt, da die Opfer ,im Kampf fortleben‘. Alles ist ruhmvoll und heroisch. Aber 70.000 Leute sind hier gestorben, und die meisten nur, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Sie wollten nicht sterben. Da war kein Plan. Da war auch kein Ruhm. Viele Salvadorianer starben tatsächlich als Helden im Kampf gegen die Übermacht eines brutalen Regimes. Aber selbst für diese Helden hat der Tod eine unmittelbare Seite.“

Ende der siebziger Jahre wurde Ostertag in der New Yorker Avantgarde-Jazzszene um John Zorn und Fred Frith bekannt, wo er mit Tonbandgeräten arbeitete. 1980 ging er als Journalist nach Mittelamerika. Sooner or Later ist seine erste neue Platte.

Ostertag spielt zunächst das Dokument in voller Länge ein. Es beginnt abrupt mitten in einem Schluchzer und endet ebenso abrupt mit dem Racheschwur. Danach bearbeitet Ostertag es mit einem Sampler — also der modernsten musikalischen Computertechnologie: Mit einem Sampler läßt sich jedes beliebige Klangereignis digital speichern. Über eine mit dem Computer verbundene Tastatur kann man es dann abrufen, in alle Tonhöhen transponieren und anderweitig klanglich manipulieren. Im halbstündigen ersten Teil von Sooner or Later beschränkt sich Ostertag ausschließlich auf Material aus dem Dokument, im halb so langen zweiten Teil kommt ein Sample von Fred Friths Gitarre hinzu, im Grunde ein stehender Dur-Akkord, der innerlich pulsiert und durch Nebentöne verunreinigt wird.

Ostertag benutzt den Sampler nicht direkt zu klanglichen Verfremdungen, er ist eher am Raum und der Wiederholung interessiert, die zu Prinzipien der Komposition werden. Er legt den Finger auf bestimmte Stellen in seinem Material, holt sie heraus, vergrößert und verdoppelt sie, läßt sie wandern, zieht Endlosschleifen, die sich in ihrer Repetitivität zu rhythmischen Patterns verselbständigen. Aus der Stimme des Jungen — Ostertag greift vor allem die kleinen Schluchz- und Wimmerlaute heraus — wird ein Pfeifen und Tirilieren, ein Brüllen und Männerchor oder das Fauchen einer über die Geleise ratternden Lokomotive.

Sooner or Later erliegt nicht der Versuchung, die in jeder neuen musikalischen Technik steckt. Ostertag benutzt die Rede des Jungen nicht, um zu demonstrieren, „was man alles mit dem Sampler machen kann“. Sie bleibt, wenn man dem Stück von Anfang bis Ende zuhört, stets erkenntlich — wenn man allerdings mittendrin anfangen würde, ließe sich auf das Original unmöglich zurückschließen.

So gesehen, ist Ostertags Arbeit mit dem Sampler musikalische Arbeit im klassischen musiktheoretischen Sinn: Er variiert ein Thema, und wie in klassischen Variationen ersteht am Ende des ersten Teils dieses „Thema“ — die Rede des Jungen — in leicht veränderter Ursprungsgestalt wieder auf. Erst dann tritt mit Fred Friths Gitarrenakkord im eigentlichen Sinne Musik hinzu.

Auch holen die Variationen aus dem Thema, was schon darin steckt. Die Wiederholung als Hauptvariationstechnik wird dem Dokument nicht von außen herangetragen. Die Rede des Jungen ist selbst schon durch das gleichmäßige Stampfen der Schaufel rhythmisiert. Und Totenklage ist im abendländischen Mythos Ursprung der Musik — Orpheus erfand sie am Grabe. Spätestens seit Monteverdi ist diese Konstellation in der Musik immer wieder durchgespielt worden. Ostertag erinnert sie nur an ihr Herkommen. Man könnte lange darüber nachdenken, was er in seinem Stück eigentlich treibt — Politisierung der Kunst oder Ästhetisierung der Politik —, Sooner or Later ist eine ziemlich irritierende Platte.

J.-PH. RAMEAU

Les Boréades

Erato/East West 2292-45572-2 (3 CD)

„Mit deiner Liebe bin ich einverstanden“, sagt Amor, der dafür eigens und unter Begleitung einiger entzückender Grazien ex machina vom Bühnenhimmel herabgefahren ist, zu Alphise, „aber heiraten sollst du einen Nachfahren des Boreas“. Eine verwirrende Auskunft, denn gerade mit den Nachstellungen der beiden Boreas-Söhne kann Alphise nichts anfangen — sie ist in Abaris verliebt, einen Waisenknaben ungewisser Herkunft, der im Apollo- Tempel großgezogen wurde. Des Liebesgottes Zweideutigkeit führt zu manchen Verwicklungen, Erdbeben zumal und eisigen Stürmen — denn Boreas ist der Gott des Nordwinds — und weiterhin zu zerknirschten Bedrängnisgesängen des Chors und der Solisten. Bis dann im allerletzen Moment der Himmel ein zweites Mal aufreißt. Apollo steigt aus dem geflügelten Wagen. Er habe einst, so bekennt er, den Abaris mit einer ganz reizenden Nymphe gezeugt, die ihrerseits eine Tochter des Boreas sei. So fügt sich alles, Amor hat gesiegt, das begeisterte Ensemble tanzt Gavotten, Rondeaus und Rigaudons.

Rameau hat Les Boréades 1764 geschrieben, in seinem letzten Lebensjahr. Er starb während der Proben, die Oper wurde aus dem Spielplan genommen und geriet in Vergessenheit. Uraufgeführt wurde sie erst 1982 auf dem Festival von Aix- en-Provence — auf dieser Aufführung beruht auch Gardiners Aufnahme, die jetzt auf CD wiederveröffentlicht wurde — leider ohne Textbuch, wofür rechtliche Gründe angeführt werden.

Was Mozart wohl zu Les Boréades gesagt hätte, der sich zum Zeitpunkt von Rameaus Tod auf seiner ersten Parisreise befand? Ob die beiden sich noch kennengelernt haben, ist ungewiß. Bekannt ist nur, daß Mozart Freundschaft mit dem Enzyklopädisten Melchior Grimm schloß, einem eingeschworenen Feind Rameaus. Les Boréades wäre jedenfalls die erste Oper gewesen, in der Mozarts spätere Lieblingsinstrumente mitgespielt hätten, die Klarinetten.

Trotz einiger Neuerung gegenüber der 1764 längst veralteten Tragedie lyrique, die Rameau von Lulli übernommen hatte, ist Les Boréades nicht seine inspirierteste Oper. Hippolyte et Aricie, obwohl 30 Jahre älter, leistet sich wesentlich mehr musikalische Kühnheiten, und sein hinreißendstes Bühnenwerk bleibt der Einakter Pygmalion.