Gegenseitige Entlastung

■ Ein Steuerkompromiß zwischen Klientelpolitik und Verantwortungsgemeinschaft

Gegenseitige Entlastung Ein Steuerkompromiß zwischen Klientelpolitik und Verantwortungsgemeinschaft

Der schnelle Steuerkompromiß vom Wochenende demonstriert vor allem eines: Regierung und Opposition sitzen letztlich im selben politischen Boot, wenn es um die Bewältigung der deutschen Einheit geht. Beide können sich nicht der Verantwortung dafür entziehen, wie die wirtschaftliche und soziale Umwälzung in den neuen Ländern durch staatliches Handeln strukturiert wird. Die beiden konkurrierenden politischen Lager sind beim derzeitigen labilen Machtgleichgewicht zwischen der Bonner Koalition und den SPD- dominierten Ländern zur Kooperation und zum Kompromiß gezwungen.

Dies erfordert von der Regierungskoalition den größeren Schritt: den Abschied vom absoluten Vorrang der Exekutive, mit dem sie bisher die deutsche Einigung zur exklusiven Veranstaltung des Kanzlers und seines engsten Küchenkabinetts gemacht hatte. Die Koalition muß sich aus den einsamen Höhen des Geschichtsträchtigen hinabbegeben in die Niederungen des Mach- und Durchsetzbaren. Darin liegt ein längst überfälliges Stück Entmachtung, das der deutschen Politik nur guttun kann. Daß die Koalition dies so schnell begriffen hat, spricht für eine gewisse Lernfähigkeit.

Die SPD und die von ihr regierten Länder haben ihrerseits im Ringen um den Steuerkompromiß ihren Anspruch auf Mitentscheidung in der Bonner Politik angemeldet. Das zielt — ähnlich wie in der umgekehrten Konstellation in der Schlußphase der Ära Helmut Schmidt — letztlich auf die ganze Macht in Bonn. Aber mit ihren steuerpolitischen Konzepten kann sie diesen Anspruch auf die ganze Macht und damit die ganze Veranwortung keineswegs belegen.

Vieles spricht dafür, daß sich Regierung und Opposition mit dem gefundenen Steuerkompromiß gegenseitig entlastet haben. Die Koalition ist mit Hilfe der SPD-Länder von ihrer skandalösen Privilegienpolitik zugunsten der Großverdiener jedenfalls teilweise heruntergekommen. Und die SPD hat die Einkommensgrenze geopfert, mit der sie ihre Wählerklientel aus den mittleren Einkommensschichten vor Einheitsopfern schützen wollte.

Natürlich wußte sie schon immer, daß die unbestritten notwendige Steuererhöhung ohne Einbeziehung gerade dieser Schichten nichts bringt. Wenn es ihr aber wirklich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Einheitsopfern und sozialem Schutz gegangen wäre, hätte sie eine deutlich niedrigere Einkommensgrenze fordern müssen. So hat sie sich das Notwendige von der Regierung abhandeln lassen und am Ende nicht einmal jene NiedrigverdienerInnen schützen können, die wahrlich diesen Schutz gebraucht hätten. Der Kompromiß vom Wochenende demonstriert eher eine Verantwortungslosigkeits- als eine Verantwortungsgemeinschaft zwischen Regierung und Opposition. Martin Kempe