„Es geht nicht um Beschuldigungen, sondern um Wahrheit“

Im Berliner Haus der Kirche trafen sich am Wochenende deutsche und sowjetische Historiker/ Mit wenigen Ausnahmen haben die deutschen Gastgeber keine neuen Erkenntnisse über den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion präsentiert/ Die sowjetischen Gäste durchbrachen die Routine  ■ Aus Berlin Götz Aly

Es war der größte Raub- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte. Die Deutschen brachen diesen Krieg vom Zaun. Insgesamt sorgten rund 10 Millionen Wehrmachtssoldaten und SS-Männer dafür, daß die „slawischen Massen dezimiert“ würden. Ihr blutiger Erfolg war entsetzlich. Etwa 27 Millionen sowjetische Kriegstote, überwiegend Zivilisten, waren die Opfer dieses letzten deutschen Versuchs, die Herrschaft über ganz Europa zu gewinnen. Insoweit herrscht Konsens unter Historikern, sieht man einmal von der Legende eines deutschen „Präventivkriegs“ gegen einen angeblich angriffslüsternen Diktator Stalin ab. Diese These, der alle bekannten historischen Fakten widersprechen, ist zählebig. Ihr Milieu ist das rechtsradikale Lager.

Erst jetzt, nach 50 Jahren — der Überfall begann am 22. Juni 1941 — kann vom Ende der Nachkriegszeit und von beginnender Normalisierung gesprochen werden. Aber merkwürdig: Die deutsch-sowjetische Historikerkonferenz zum Thema „Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion“, die gestern in Berlin zu Ende ging, fand eher versteckt statt. Organisiert wurde die Konferenz von dem erst vor zwei Jahren gegründeten Verein Deutsch- sowjetische Kontakte, finanziert von der Deutschen Klassenlotterie. Das Haus der Kirche stand kostenlos zur Verfügung, etwa 100 Interessierte kamen dorthin. Das Podium war von deutscher Seite hochkarätig besetzt — Hans Mommsen, Dietrich Eichholz, Wolfram Wette und Christian Streit gaben sich die Ehre. Aber zu einer wirklichen Auseinandersetzung, zur Diskussion neuer Einsichten kam es nicht. Unterm Strich transportierten die Deutschen den Eindruck, sie hätten jahrelang brav geforscht, wüßten Bescheid — während die sowjetischen Forscher entweder selbst die Wahrheit unterdrückt hätten bzw. in der Wahrheitssuche behindert worden seien. „Defizite“, so weit das Auge reicht.

Die deutsche Seite nimmt für sich in Anspruch, die Geschichte im Griff zu haben. Es gibt noch einige „Desiderate“, ungeklärte „zweitrangige Probleme“, etwa mit der „Rolle der deutschen Eliten“, auch fehlen „regionalgeschichtliche Unterfütterungen“ und eine „Alltagsgeschichte der deutschen Soldaten“. Einen neuen Terminus sollte man sich nach dieser Konferenz merken: Deutsche Historiker bevorzugen zunehmend das knappe Kompositum „killing- rate“, wenn es um die deutsche Hungerpolitik, die Massenerschießungen, Gaswagen- und „Vergeltungsaktionen“ geht.

Den Versuch, neue Materialien und Überlegungen in die Diskussion einzuführen, unternahmen auf deutscher Seite nur zwei Referenten: Hans-Heinrich Wilhelm, Studiendirektor an einem Berliner Gymnasium, sprach über die Verfolgung der sowjetischen Juden. Er konnte die Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht, einheimischen Kollaborateuren und der SS in der „Judenfrage“ konkret darlegen anhand von Archivmaterialien, die er zwischen Washington und Riga zusammengetragen hat. Neben Wilhelm hatte sich auch der Bochumer Professor Bernd Bonwetsch ernsthaft auf diesen Kongreß vorbereitet. Er sprach über den Partisanenkampf und seine Opfer und versuchte, sich der Realität jenseits der beiden Pole „verbrecherische Deutsche — heroische Freiheitskämpfer“ anzunähern. Er beschrieb die schlechte Versorgung der Partisanen mit Waffen durch die sowjetische Militärführung, die Tatsache, daß auch sie eine zunächst eher passive Zivilbevölkerung als Schutzschild nutzten, vor allem aber die konkreten Mechanismen des deutschen Terrors. Sein wichtigstes Ergebnis: Die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches habe bewußt und weitgehend erfolgreich „eine allgemeine Enthemmung der Truppe im Verhalten gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung provoziert“. Im allgemeinen gab es keine positiven Befehle, Zivilisten zu berauben und zu ermorden. Stattdessen wurde der im deutschen Militärstrafgesetz vorgesehene Verfolgungszwang für Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung ausdrücklich aufgehoben.

Die Historiker aus der Sowjetunion und — so sollte man mittlerweile unterscheiden — aus Lettland trugen ihre Referate in wunderbarem Deutsch vor, zitierten Heinrich Heine und zeigten, daß ihre Forschungen so „defizitär“ nicht sind. Hervorzuheben ist der Vortrag des Rigenser Diplomhistorikers Margers Vestermanis über die Verfolgung der Juden im Baltikum während des 2. Weltkrieges. Von den lettischen Juden überlebten wenige tausend, ein bis eineinhalb Prozent, den Krieg. Daß „sie in einer Tradition der Deutschfreundlichkeit“ standen, dokumentierte der Referent selbst eindrucksvoll. Er gehört zu den wenigen Überlebenden und leitet ein gerade gegründetes kleines jüdisches Museum in Riga. Er kennt die gesamte Literatur zu diesem Thema, die lettischen Archive, er hat mit anderen Überlebenden gesprochen und mit Letten, die Augenzeugen von Pogromen waren, die die Deutschen kurz nach dem Einmarsch auslösten. Allerdings seien diese Fragen bis heute, so sagt er, im Baltikum tabuisiert. Aber das Thema der Kollaboration werde sich nicht mehr lange unterdrücken lassen: „Ein lettischer Schriftsteller wird demnächst vor die Öffentlichkeit treten, demnächst werden die schriftlichen Hinterlassenschaften der lettischen Kollaborationbehörden zugänglich sein, ebenso die Protokolle jener Vernehmungen, die der KGB von den Verhören der Kollaborateure anfertigte.“ Verstermanis resümierte: „Es geht nicht um neue Beschuldigungen, sondern um Wahrheit. 50 Jahre danach habe ich erstmals die Gelegenheit, darüber zu sprechen. Es ist gut, daß es in Deutschland geschieht, es wäre besser, wenn es in meiner Heimat geschähe.“ (Vestermanis sprach frei, die taz wird in ihrer Beilage zum deutschen Vernichtungskrieg am kommenden Samstag eine Mitschrift dieses Vortrags veröffentlichen.)

Allein wegen eines solchen Vortrags war dieser Kongreß ein Erfolg. „Defizitär“ waren nicht die sowjetischen und lettischen Gäste; auf eine spezifische Weise defizitär und hoffärtig waren die deutschen Gastgeber: Sie verstrickten sich in Details, thematisierten die stalinistischen Verbrechen an den Wolgadeutschen und den Krimtartaren und schafften es, die Begriffe „Generalplan Ost“ oder „Grüne Mappe“ nicht einmal zu erwähnen. Die Namen Herbert Backe und Konrad Meyer fielen nicht. Die beiden Chefplaner der Bevölkerungspolitik und Ernährungspolitik hatten vor Beginn des Krieges festgelegt, die Kornkammer Ukraine von den Industriezentren im Norden militärisch abzuriegeln, um auf diese Weise 30 Millionen Menschen verhungern zu lassen. In dem besetzten Teil der Sowjetunion sollten zusätzlch 30 bis 40 Millionen Menschen ermordet bzw. in die Hungerzonen „ausgesiedelt“ werden, um den deutschen „Bedarf an Siedlungsraum und Rohstoffen“ zu decken.

Den deutschen Veranstaltern und Referenten gelang es tatsächlich, die Gesamtkonzeption des deutschen Vernichtungskrieges in drei Tagen nicht zu erwähnen.