In kürzester Zeit die Tristesse vergessen

■ Wenn Alfred Lux aus seinem Leben erzählt, gewinnt er Chaplinsches Format/ Karriere ohne Bitterkeit

Mehrstöckige Plattenbauten beherrschen das Stadtbild in Schöneweide, wo Alfred Lux lebt, doch ein Besuch bei ihm läßt in kürzester Zeit die äußere Tristesse vergessen. In seinen Erzählungen entsteht ein Bild der DDR als Mischung aus Diktatur und absurdem Operettenstaat, und seine Anekdoten aus dem kulturellen Leben lassen ahnen, auf welch schmalem Grat sich die Künstler im realen Sozialismus bewegten.

In der Wohnung von Alfred Lux fallen dem Besucher als erstes zwei Chaplin-Bilder auf. Eines zeigt das Original, das andere zeigt Lux in der Rolle des Tramps, und vielleicht ist diese Figur der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit. Alfred Lux, dieser unauffällige ältere Herr, ist Schauspieler und Pantomime. Wenn er die Geschichte seiner Karriere erzählt, gewinnt Lux — lebhaft gestikulierend — selber Chaplinsches Format.

Ohne Bitterkeit und Larmoyanz erzählt Lux: 1944 wurde der 17jährige Schauspielschüler eingezogen und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Als er drei Jahre später nach Hamburg zurückkehrte, blieben nach der Währungsreform von den ursprünglich 80 Theatern nur sechs übrig. Lux erhielt ein Engagement an den Hamburger Kammerspielen und wurde Assistent des bekannten Dramaturgen Günter Weisenborn. Doch auch im Westen Deutschlands sei es, so berichtet Lux, mit der Freiheit der Kunst nicht so weit hergewesen: Nach der Uraufführung von Brechts »Mutter Courage« wurden die Schauspieler öffentlich als subversive Elemente verdächtigt.

Vor dem Bau der Mauer war es für Schauspieler normal, in beiden Teilen Deutschlands zu arbeiten, und so nahm Lux 1953 ein Filmangebot der DEFA an. Eingeschränkt fühlte sich Lux in dieser Zeit nicht. Er konnte jederzeit ein- und ausreisen, und das System erschien ihm nicht ohne Vorteile. »Wir haben damals geglaubt, das Negative seien Anfangsschwierigkeiten einer neuen Gesellschaftsordnung und der Lebensstandard würde sich in ein paar Jahren angleichen.« Als die Mauer gebaut wurde, stand Lux, der mittlerweile geheiratet hatte, plötzlich vor der Alternative zu bleiben oder seine Familie zu verlassen. Lux entschied sich für Frau und Kinder.

»In den letzten Jahren der Ulbricht-Regierung kam es zu einer erstaunlichen Liberalisierung des Kulturlebens, das als internationales Aushängeschild entdeckt wurde. Ulbrichts Frau Lotte war geradezu eine Theaternärrin.« Lux selbst hatte einen Gönner im Kulturministerium, den Staatsrat und Minister für Filmfragen Rodenberg. Es gelang ihm, 1968 das einzige Privat-Theater der DDR zu eröffnen, das »Minimax«. Auf dem Spielplan standen kritische und zeitgenössische Stücke. Jetzt zeigte sich die Janus-Köpfigkeit des Systems. Schon bald kam es zu Beschwerden und die Stasi inszenierte ein Volksbegehren. »Eines Tages kam ich ins Kulturministerium«, berichtet Lux, »und Rodenberg hatte einen großen Papierstapel vor sich — 60.000 Unterschriften für die Schließung meines Theaters.«

Zur Entscheidung über die Zukunft des Minimax-Theaters kam es vor Ort. Ganz Karlshorst wurde abgeschottet, als Hager, die Ulbrichts und ein Großteil des Politbüros zur Vorstellung kamen. Lux: »Wir spielten das Stück ‘Schlachtvieh‚, in dem ein NVA-Offizier vorkommt, der in den Westen geflohen ist. Die Frage, ob er politisch verfolgt worden sei, verneint er und sagt, er hätte bloß Angst vor Verblödung gehabt. Die Stelle war ein Lacherfolg und die Geschichte endete damit, daß wir ein Prämie von 10.000 Mark für die nächste Inszenierung bekamen.«

Mit dem Ende der Ulbricht-Ära kam auch das Ende für Minimax. Die Stasi schloß das Theater. Lux erhielt Spielverbot. Er führt dies nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten Ulbrichts und Honeckers zurück. »Ulbricht war ein Mensch, der sich amüsierte und einen gewissen Humor besaß.«

In den folgenden Jahren bekam Lux, der bis dahin als kulturelles Aushängeschild benutzt wurde, die ganze zerstörerische Macht des SED-Regimes zu spüren. Auf eine Anfrage aus dem Ausland hieß es, Minimax habe es nie gegeben. Dennoch dachte Lux nicht an eine Ausreise, weil er sonst die Zukunft seiner Kinder zerstört hätte. Trotz der allgegenwärtigen Überwachung gab es Schlupflöcher im System, die Lux mit der Zeit kennenlernte — kirchliche Clubs und andere Orte, an denen seine Auftritte geduldet wurden. Amüsiert erzählt Lux die Geschichte eines verhinderten Auftritts, der — wenn auch anders als geplant — trotzdem stattfand: »Für meinen Auftritt in einem Club in Treptow durfte keinerlei Werbung gemacht werden. Dennoch war der Saal überfüllt. Kurz vor Vorstellungsbeginn kam die Stasi und verbot den Auftritt. Der Club lag an einem Spree-Arm und der Bezirk endete auf der Mitte der Brücke. Auf der anderen Seite lag der Bezirk Friedrichshain. Wir zogen alle über die Brücke, und auf der Mitte drehten die Stasi-Leute um. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan, und bevor die offiziellen Stellen in Friedrichshain informiert waren, war die Vorstellung in einem Club, der direkt auf der anderen Seite lag, bereits gelaufen. Es klingt absurd, aber so bürokratisch ging es damals zu.«

Über einen Bekannten gelang es Lux, beim Fernsehen Fuß zu fassen. Er schrieb Drehbücher und sah sich plötzlich vor die Situation gestellt, im Rahmen einer Fernseh-Produktion in den DEFA-Studios ein- und auszugehen, obwohl er offiziell Spielverbot hatte.

Dann kam »die Wende«. Wie fühlt Lux sich heute? »Besser«, sagt er und lächelt. »Endlich kann ich Dinge tun, die ich all die Jahre machen wollte.« Lux schreibt an einem Drehbuch und berichtet, daß er das Stück Regel, das seinerzeit als Grund für die Schließung des Minimax vorgeschoben wurde, im Herbst am Jungen Theater inszenieren wird.

Schließlich erzählt er noch eine letzte Anekdote: »Kennen Sie das System der negativen Kaderauslese? Deshalb war die DDR so kleingeistig. Ich war am Theater in Rostock, und Ulbricht war ein Duzfreund des Chefdramaturgen, Kurt Bartels. Nach der Vorstellung saßen wir an einem großen Tisch und Ulbricht wurde aufgefordert, von der Nachkriegszeit zu erzählen. Das größte Problem, sagte er, sei es damals gewesen, alle Posten in Kultur und Politik mit zuverlässigen Leuten zu besetzen. Man brauchte Tausende und die meisten, die überlebt hatten, waren Nazis oder unfähig. Das sei völlig egal, sagte Ulbricht, notfalls müsse man die Leute kaufen. Die Hauptsache sei Loyalität gegenüber dem neuen System. So wurden die Stellen mit dummen und unfähigen Leuten besetzt. Wohin das führte, kann man sich vorstellen. Diese Leute stellten niemanden ein, der ihre Position gefährden konnte, und so schaukelte sich der Staat zu einem Staat der Mittelmäßigkeit hoch. [Hoch? Hinab wäre das richtige Wort! d. säzzer] Das war die negative Kaderauslese.« Martin Schacht