Deutschland vor, noch ein Chor

Wilfried Minks inszeniert „Schlußchor“ von Botho Strauß in Düsseldorf  ■ Von Gerhard Preußer

Der deutsche Adler fliegt. Krächzend zieht er, auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses projiziert, seine Kreise, schwingt majestätisch seine Flügel im türkisblauen Luftreich des Gedankens.

Und dann am Ende steht er leibhaftig auf der Bühne: der Adlermann, ein Mensch mit Vogelkopf und angeklebten Feder, nacktem Oberkörper, Schaftstiefeln und den schwarzen Reithosen einer SS-Uniform. Schön ist das Zwitterwesen, wie es sich räkelt auf seinem vergitterten Postament vor einem Fragment der durchbrochenen Berliner Graffiti-Mauer. Nun kommt eine Frau mit einem Messer, befreit das Wappentier, legt sich ihm zu Füßen und bietet sich ihm an. Doch der Befreite nutzt seine Freiheit nicht. Sie hüpft um den stolzen, trägen Aar herum und macht ihn an, doch der spreizt allenfalls gelangweilt sein Gefieder. Sie liebkost ihn mit dem Messer. Dann verdeckt wieder eine Projektion die Szene: der Riesenvogel fliegt. Das Wunschbild schwindet. Und auf der Bühne steht die Frau über dem getöteten Vogelmenschen, dem die Gedärme aus dem Bauch quellen. Da steht sie wie Klytemnästra nach dem Gattenmord über Agamemnon. Während sie „Wald, Wald“ stammelnd das andere Nationalsymbol beschwört, kommt ein Häufchen bunter Durchschnittsdeutscher und legt schwarz-rot-goldene Papierfähchen als Trauerzeichen vor das tote heilige Tier.

Während dieser peinlich schönen Phantasmagorie aus dem kollektiven deutschen Unbewußten sitzt am Bühnenrand im schwachen Lichtkegel der Leser, vertieft ins Buch. Ihn rührt nichts. Oder ist er nicht der Leser, sondern gar der Autor, verantworlich für dieses hysterische Symbolgevögel?

Der Schluß von Botho Strauß' neustem Bühnenwerk hat in allen bisherigen Aufführungen Ärgernis erregt. Bei der Uraufführung in München anfangs diesen Jahres fanden die Rezensenten ihn peinlich exaltiert und empfahlen, ihn zu streichen. Die nächste Aufführung in Wiesbaden kam dem nach und präsentierte den Adler nur als Kehrseite einer Photographie des Autors. Den Schluß bildet dort eine symbolische Zerreißung des Adler-Autors.

Wilfried Minks in Düsseldorf hält nichts von solcher Distanzierung. Er setzt gerade auf die abstrusen surrealen Bilder. Seine Phantasie entzündet sich weniger am Sprachwitz von Straußens Pointen sprühenden Repliken, als an seinen mythengeilen Rätselbildern, die anderen Regisseuren ein Kreuz sind. Der Bühnenbildner Minks ist in seinem Element.

Minks schafft optische Bezüge in diesem verwirrenden Spiegelkkabinett. Die drei scheinbar unzusammenhängenden Akte werden in einem Bühnenbild gespielt, einer riesigen Deutschlandfahne, die sich aus dem Zuschauerraum auf die Bühne wellt. Und so wird deutlich, daß nicht nur der letzten Akt am 9.November 1989 spielt, sondern daß auch der Chor des ersten und auch die Partygesellschaft des zweiten Aktes die Bewußtseinslage der westlichen Teilnation am Datum ihrer Komplettierung spiegeln. In Minks Inszenierung ist der Rufer, der in jedem Akt einmal kurz „Deutschland“ auf die Szene brüllt, kein Running Gag, kein irrer Einzelgänger, sondern ein überflüssiger Ansager. Er spricht nur aus, was alle denken und was die Bühne uns immer wieder zeigt.

Alle drei Akte enden mit einem Toten. Zuerst der Photograph, den der Chor sich engagierte, um sich durch sein Abbild seine Existenz zu beweisen. Dann Lorenz, der verzappelte Architekt, der die schöne Delia allzu froh nackt im Bade sah, und sich erschoß, weil dies Versehen jedes Kennenlernen unmöglich machte. Und zum Schluß der Vogelmann, lustvoll getötet von der ewig pubertierenden Vergangenheitsbewältigerin und rückwärts gewandten Prophetin Anita von Schastorf. Alle Toten werden in Minks' Inszenierung umringt und betrauert von der westdeutschen Chormeute. Tod steht am Ende der versuchten Vereinigungen in Deutschland. Die Geschichte hat den Deutschen, sagt der Leser im dritten Akt, „einen Abend für einen Morgen vorgemacht“.

Immer dort, wo Botho Strauß von der glatten Oberfläche der Gesellschaftssatire abtaucht ins träumerische Bilderreich, wird die Inszenierung intensiv: der Chor kehrt die Rollen um, dirigiert seinen Photographen, schikaniert ihn erbarmungslos bis er erschöpft zusammenbricht. Dann Dunkel. Man hört eine zu Gegangsvereinskitsch verniedlichte Version des Schlußchors von Beethovens Neunter. Dann steht der Chor entspannt und familiär im Kreis um ein Häufchen blutverschmierter Kleider herum. Sie haben ihren Beobachter zerrissen wie einst die Mänaden Pentheus. Oder Lorenz kommt ins dunkle Haus, drei Türen, identisch, nur verschieden groß zeigen sich ihm. Welche soll er öffnen. Er geht zur vierten. Die kommt ihm entgegen, und mit ihr bewegt sich dahinter die Badewanne, in der die nackte Delia steht. Als er sie erblickt, erhebt sich eine neue Tür, klappt aus dem Boden vor die hüllenlose Aphrodite Kallypigae. Gruselmorde, Türenzauber, Spiegelwunder, Märchenvögel — das sind Minks' liebste Szenen.

Und das, was auch die Botho Strauß-Verächter loben, seine Formulierungsdelikatessen? Wo bleiben die? Auf der Strecke. Hier fehlten dem Regisseur entweder die Schauspieler oder das Interesse oder beides. Wenn Delia und Lorenz in exquisiten Jamben über die Erotik des Blickes sinnieren, mangelt es den Schauspielern hörbar an Sinn. Und auch die Kunst des Boulevard-Theaters, Pointen zu setzen, fehlt im Partygeschwätz des Mittelteils.

Botho Strauß' hartnäckiges Bemühen, mehr zu sein als nur der witzig-gescheite Beobachter der Intellektuellen-Szene, wird von den Intellkektuellen wenig honoriert. Seine Kritik an der „umfassenden Mentalität des Sekundären“ dient uns Agenten dieser Mentalität nur zur Selbstbestätigung. Sein Gestus der Verweigerung wird integriert als besonders raffinierte Pose im Kulturbetrieb. Wer uns so schnell und scharf kritisieren kann, gehört zu uns. Botho Strauß, der flinke Analytiker, ist willkommen. Botho Strauß, der Theoretiker und Praktiker einer Kunst, die Remythologisierung und eine sakrale Poetik will, ist degoutant. Wilfried Minks' Inszenierung vermittelt eine Ahnung davon, was es hieße, ihn ernst zu nehmen.

Botho Strauß: Schlußchor . Regie und Bühne: Wilfried Minks. Musik: Wilfried Weber. Mit Wolfgang Rüter, Barbara Nüsse, Christiane Lemm. Düsseldorfer Schauspielhaus (Großes Haus). Weitere Vorstellungen: 19./25./26. und 27. Juni und 2./3./12./13. und 14. Juli.