DEBATTE
: Der Eisberg im Osten

■ Zu den Ursachen des jugendlichen Rechtsradikalismus und der wachsenden Gewaltbereitschaft in den neuen Bundesländern

Der Rechtsextremismus in den neuen Ländern kann mit einem Eisberg verglichen werden. Die Spitze, sichtbar in Form von Neonazis, zeigt nur den kleinsten Teil des Problems, das als Fremdfeindlichkeit und Gewaltakzeptanz in der sogenannten Normalität — unter der Oberfläche — scheinbar verborgen ist.

Verletzungen und Verunsicherungen

Der Mangel an Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der ritualisierten Umgang mit derselben haben die Entstehung des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern sicher begünstigt. Wenn man per se zu den Siegern zählt, ist kritische Auseinandersetzung überflüssig. Doch die Hauptursachen liegen in den DDR-spezifischen Ursachen des Aufwachens und Lebens in autoritären und repressiven Verhältnissen, die in hohem Maße mit Minderwertigkeitsgefühlen und Verletzungen einhergingen. Hinzu kam noch die Erziehung zu einfachen Freund- Feind-Bildern, die auf die „System“- Abgrenzung bezogen war. In solchen Verhältnissen kann der einzelne sozial unauffällig leben, solange er sich in klar strukturierten Situationen befindet. Er „funktioniert“, ohne selbst unter einem persönlichen Leidensdruck zu stehen. Jede Abweichung von diesem normalen Muster löst jedoch massive Ängste und Verunsicherung aus, wenn also Verhältnisse unübersichtlich werden, wenn vor allem der Alltag fremd wird.

Veränderungen, zumal abrupte Einbrüche von Lebenszusammenhängen, bringen verstärkt Handlungsunsicherheiten in beruflicher Hinsicht, Ohnmachtserfahrungen durch Auflösung von familiären oder Firmenzusammenhängen hervor. Solche Erfahrungen müssen jetzt verarbeitet werden. So kann es dann leicht geschehen, daß versucht wird, die Handlungsunsicherheit zu überwinden durch die Suche nach Gewißheiten, Klarheit und Stabilität. Hier zeigt sich dann die Brisanz der Freund-Feind-Schemata. Sie sind mit dem Verschwinden des Klassenfeindes nicht aufgelöst, sondern werden nur „umgelenkt“ auf die persönliche Ebene gegen die Anderen, die Fremden. Hier helfen dann scheinbar einfache Vorurteile, die ja im Grunde die Aufgabe haben sollen, zu stabilisieren. Sie entspringen nicht dem Verhalten der Fremden, sondern dem Unbehagen an der eigenen Lebenssituation. Hieran können rechtsextremistische Konzepte anknüpfen, die versprechen, eine stabile Ordnung wiederherzustellen und dazu Fremdenfeindlichkeit verwenden. Ohnmachtserfahrungen werden vor allem ausgelöst, beziehungsweise verstärkt durch neuartige Konkurrenzerfahrungen, die den Eindruck erwecken, man könne keine Kontrolle über die eigene Lebensplanung erhalten. Dann gewinnt Gewalt an Attraktivität, weil sie als erfolgreiches Handlungsmodell gilt (und in der ehemaligen DDR auch vielfach staatlicherseits als legitim begründet wurde, in der brisanten Mischung von innenpolitischer Unterdrückung und der außenpolitischen Aufforderung). Wenn drittens soziale Beziehungen und Einbindungsmöglichkeiten zusammenbrechen und Vereinzelungserfahrungen auftreten, so führt dies häufig zur Suche nach neuen Zusammengehörigkeiten, die einem keiner nehmen kann und die zudem noch mit Stolz verbunden werden können, um davon etwas für sein eigenes Selbstbewußtsein „abzuzweigen“. Dazu eignen sich dann in besonderem Maße die nationalistischen Gefühle.

Zur Eskalation des Rechtsextremismus trägt bei, daß westdeutsche Politik massiv an der Zerstörung von Lebenszusammenhängen mitwirkt. Dies betrifft vor allem auch die Schließung von Betrieben. Deren Bedeutung als sozial integrierender Faktor war im DDR-Alltag größer als in Westdeutschland. Es geht um mehr als nur Arbeitsplatzverlust, der für sich genommen schon schlimm ist.

Zum zweiten erschwert die demonstrative Überlegenheit von Westdeutschen eine Entwicklung zu mehr Selbstbewußtsein und fördert den Hang zu Schuldverschiebungen auf Fremde, um mit den eigenen Problemen fertig zu werden. Individuelle Unterlegenheitsgefühle werden somit umgebogen. Dies läßt sich dort am besten dokumentieren, wo man Sieger ist: Deshalb überfallen einige Gruppen, etwa Skins, besonders gern einzelne Fremde oder in jedem Fall Unterlegene.

Eine entgrenzte Gewalt

Es ist auffällig, daß im Vergleich mit Auseinandersetzungen in Westdeutschland eine sehr viel größere Brutalität auftritt, Gewalt also völlig entgrenzt zu sein scheint. Woher kommt diese Entgrenzung? Je stärker autoritäre Erziehung und staatliche Repression auftritt, je weniger kann sich Eigenverantwortlichkeit entwickeln. Fallen dann noch Alltagserfahrungen und offizielle Darstellung auseinander, ergibt sich eine brisante Situation. Wenn diese Außensteuerung und Außenkontrolle entfallen, sind kaum verinnerlichte Orientierungsmarken wie zum Beispiel sinnhafte moralische Positionen, glaubwürdige Positionen vorhanden. Es tritt eine anomische Situation ein, eine Norm- und Regellosigkeit, die der Gewalt freien Lauf läßt, wenn Angst und Verunsicherung erfahren werden.

Nun ist nicht jede Form von Gewalt mit rechtsextremistischen Orientierungen verbunden. Aber die Gefahr ist deshalb groß, da jeder nach Begründungen seines Handelns sucht. Dabei gewinnen jene politischen Positionen an Bedeutung, die Gewalt als sinnvoll und legitim erscheinen lassen. Da bieten rechtsextremistische Konzepte entsprechende Begründungen an. Für sie ist die Gewalt etwas ganz Natürliches. Danach werden alle Vorgänge in der Natur und in der Gesellschaft letztlich durch Gewalt geregelt: „Der Stärkere muß sich durchsetzen.“ Diese „Legitimation“ senkt die Gewaltschwelle weiter ab. Viele Jugendliche, die solche Erklärungsmuster verwenden, sind keine festgelegten Neonazis, sondern sie verwenden diese ideologischen Positionen in erster Linie dazu, um das gewalttätige Tun für sich selbst subjektiv sinnhaft erscheinen zu lassen. Es hängt von den Lösungsstrategien ab, ob es zu Verfestigung kommt, da Gewalt immer ein Interaktionsprozeß ist.

Lösungen statt Symptombenennung

Bei der Diskussion um Lösungsansätze werden in der Regel Ursachen und Symptome verwechselt. Dies ist naheliegend, weil ursachenbezogene Überlegungen eine andere Politik erforderlich machen, während man es ansonsten bei moralischen Appellen lassen kann. Von der herrschenden Politik wird offen oder insgeheim auf eine problematische Mischung aus Marktstrategie (also Konsum als Beruhigungsmittel), Disziplinierung und Kontrolle sowie auf einen — wie man meint — „gesunden“ Nationalstolz gesetzt. Dies ist ebenso einseitig wie solche „antifaschistischen“ Strategien, die in erster Linie auf Gegengewalt, Ausgrenzung und Stigmatisierung setzen. Auch dies ist nicht ursachenbezogen, sondern fördert zum Teil gerade den Zusammenhalt rechtsextremistischer Gruppen.

Es muß eine Politik betrieben werden, die soziale Lebenszusammenhänge stiftet und nicht zerstört. Dies bedeutet, daß verstärkt soziale Einbindungsmöglichkeiten geschaffen werden müssen, man nicht durch hochgradige Konkurrenz jede Möglichkeit von Gemeinsamkeit und Solidarität von vornherein verunmöglichen darf, so daß nur wieder Niederlagen und Vereinzelung übrigbleiben. Dazu gehört auch die Schaffung von Arbeitsplätzen, damit auch die gesellschaftliche Nützlichkeit dokumentiert wird. Doch reicht selbst das heute nicht mehr aus. Jugendliche müssen das Gefühl gewinnen, daß sie durch ihre Tätigkeiten ausgefüllt sind und ihre Zukunft unbeschädigt ist. Die Tendenz, die Jugendlichen von heute auf die Zukunft zu vertrösten, wird sich als fatal entpuppen. Wilhelm Heitmeyer

Der Autor lehrt an der Pädagogischen Fakultät in Bielefeld und ist Experte für Rechtsradikalismus.