Eis ist Zivilisation

„Unter Null“: Zu einer Ausstellung über Kälte, Kunst-Eis und Kultur  ■ Von Martin Halter

In Paul Theraux' Roman Mosquito-Küste zieht ein zivilisationsmüder Tüftler, Kälteingenieur aus Passion, mit Kind und Kegel und vor allem mit dem missionarischen Pioniergeist der Heimat an den Amazonas, zurück zur Natur — nur, um sich an deren Busen mit primitiverer Technik ganz wie daheim einzurichten. Die verrückte Logik der Zivilisation, Dilemma aller Aussteiger, treibt den Bastler, zuletzt auch die Eingeborenen mit einer Eisfabrik zu beglücken oder doch wenigstens durch den Kälteschock aus ihrer tropischen Lethargie zu reißen. Der Schlachtruf des Erfinders „Ohne Eis keine Zivilisation“ büßt dadurch nichts von seiner fröstelnmachenden Wahrheit ein. Gäbe es die Kälte nicht, wir lebten immer noch als nackte Affen im Urwald.

Im Kampf gegen sie hat der europäische Hyperboräer seit der letzten Eiszeit seine humanen Kulturtechniken ausgebildet. Der Kälte hat er Nahrung abtrotzen müssen, ihr verdanken wir Bekleidung, Behausung und Zentralheizung — von fortgeschritteneren Zivilisationsleistungen wie dem Eiskunstlauf, der Autogen-Schweißtechnik, der V 2 oder der Tiefkühlkost ganz zu schweigen. Die Kühltechnik des 19.Jahrhunderts hat Bier und Milch vor dem Sauerwerden bewahrt, den toten Lenin vor der Verwesung und die Banane auf dem langen Weg nach Europa vor vorzeitiger Fäulnis. Ohne die künstliche Kälte, die uns von den verderblichen Launen der Natur emanzipiert, hätte das „eisgekühlte Coca-Cola“ seinen Siegeszug nicht antreten und das Eis nicht am Stil kleben können.

Kein Wunder also, daß die Polarforscher, die sich im Ewigen Eis nichts als Skorbut und erfrorene Zehen holten, zu den letzten Heroen der Entdeckungsgeschichte werden konnten; ihren fast mythisch erhabenen Epen schenkte der Bürger am Kamin noch sein wärmstes Interesse, als Afrikareisende keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken konnten — siehe Messner. Kein Zufall aber auch, daß der Kühlschrank, einst wie kein zweites Haushaltsgerät Gradmesser häuslichen Komforts und Ikone der Konsumgesellschaft schlechthin, zur technologischen Metapher für das „kalte Herz“ der Romantik werden konnte.

In den Erscheinungsformen der Kälte kristallisiert sich die Dialektik der Aufklärung. Von Anfang an wurden die technischen Mittel und sozialen Folgen des Kapitalismus — Mechanisierung, Disziplinierung, rationalistische Entzauberung der Welt, Freisetzung des Individuums— mit Kälte assoziiert. Schließlich funktionieren seine letzten Errungenschaften von der Supraleitertechnik bis zur Samenbank nur in der Nähe des absoluten Nullpunkts. Wohl wappneten sich die Opfer solcher Kälteschocks mit „kaltblütigen“ und später auch „coolen“ Überbietungsstrategien gegen die Abkühlung aller Beziehungen: Gefühle werden auf Eis gelegt, um sie vor dem schnellen Verderb zu schützen. Aber noch die hitzige Zürcher Jugendbewegung führte 1981 die Parole „Nieder mit dem Packeis!“ im Schilde. Schon zu Zeiten von Heines Winterreise waren die „Eispaläste der Despotie“ eine geläufige politische Metapher; heute nehmen die aus ihrem Winterschlaf erwachten Osteuropäer schon wieder die „Fröste der Freiheit“ wahr.

Solchen erhellenden Beziehungen zwischen „Kunsteis, Kälte und Kultur“ widmet sich eine Ausstellung in Nürnberg unter dem Titel Unter Null. Mag sein, daß die 600 Exponate im angemessen kühlen Design

Gäbe es die Kälte nicht, wir lebten immer noch als nackte Affen im Urwald

des Museums für Industriekultur manchmal nur in einem äußerlichen Zusammenhang stehen: Was haben die italienischen Eisdielen in der Abteilung „Wahl der Waffeln“ schon mit Eishockey oder gar mit den unmenschlichen Unterkühlungsexperimenten im KZ Auschwitz gemein? Was die Ungetüme aus der Pionierzeit der Kältetechnik mit den „Schrecken des Eises und der Finsternis“, von denen die verschollenen Nordexpeditionen zeugten? So viel wie Fieberträume mit der Wärmeflasche: Temperatur und Zeitgenossenschaft. Gewiß werden in Nürnberg Natur- und Kunsteis wie im Cocktailshaker durcheinandergeschüttelt, konkrete Arbeits- und Gebrauchsgegenstände in einer Vitrine mit Symbolen und Metaphern kurzgeschlossen. Aber die pfiffig zusammengestellte Schau in sieben Stationen vom Packeis bis zum Eistanz erschließt so immer wieder verblüffende Querverbindungen und Zusammenhänge zwischen den scheinbar getrennten Sphären von Industrie und Kunst, Ingenieurtechnik und Kulturgeschichte.

Die Welt schlittert, jedenfalls der apokalyptischen Thermodynamik zufolge, auch ohne Zutun des „Treibhauseffektes“ dem globalen Wärmetod entgegen. Trotzdem hält man sich als wohltemperierter Mensch lieber im Warmen auf. Kälte stellt das organische Leben still, verlangsamt zumindest die natürlichen Wachstums- und Reifeprozesse. Was jeder Maulwurf im Winterschlaf am eigenen Leib erfährt, nutzt die Medizin längst zur örtlichen Betäubung (um dubiosere Dinge wie Organbanken, Genmanipulation und Embryonenkühltruhen beiseite zu lassen). Optimistische Amerikaner lassen sich in der vagen Hoffnung auf ein glücklicheres Auftauen heute lieber von Firmen wie „Trans Time Inc.“ einfrieren als verbrennen; Science-fiction-Fans ist der Kälteschlaf als „Hibernation“ geläufig. Wasser gefriert bei null Grad, bei 190 Grad wird die Luft flüssig, und auf dem absoluten Nullpunkt, bei 273 Grad, hört selbst die Bewegung der Moleküle auf.

Künstliche Kälte, die Nutzung ihrer retardierenden und konservierenden Funktion im großen Maßstab, hat die Lager- und Transporttechnik und damit auch unsere Lebens- und Eßgewohnheiten in den letzten 150 Jahren revolutioniert. Schon Kaiser Heligabalus labte sich am Schnee aus den Apenninen, und bis weit in unser Jahrhundert war der Abbau von Natureis vor allem in Norwegen ein florierendes Gewerbe. Die „Eisernte“, zumindest in unseren Breiten ein absolutes Stoßgeschäft, war ein hartes Stück Arbeit und ein lukratives Spekulationsgeschäft. Schlachthöfe und Brauereien, Fischkutter und Gasthäuser gehörten zu den besten Kunden; allein eine Stadt wie New York verbrauchte 1879 eine Million Tonnen Natureis. Schnelle Segelschiffe brachten das „weiße Gold“ bis nach Kalkutta, Kamele trugen es in die entlegensten Oasen. Im Hauptumschlagplatz Oslo erschnüffelten die Korrespondenten der 'Zeitschrift für die gesamte Kälteindustrie‘ wie an einer Börse die Konjunkturen des Eispreises.

Aber das Natureis blieb ein flüchtiges Gut, und so hat sich denn auch der Erfindergeist der führenden Industrienationen frühzeitig auf die Herstellung brauchbarer Kältemaschinen verlegt. 1851 ersann der amerikanische Arzt John Gorrie, stets um das Wohlbefinden seiner Patienten besorgt, eine primitive Kaltluftmaschine. Der Franzose Ferdinand Carré konstruierte um 1860 eine Absorptions-Kältemaschine, die sich erstmals die Verdampfungswärme des Ammoniaks zunutze machte. Aber erst 1877 erfand Carl Linde, Professor für theoretische Maschinenlehre und zugleich tüchtiger deutscher Unternehmer (in den Adelsstand erhoben, führte er einen Eisbär im Wappen), jene Kältemaschine, deren Kompressionstechnik im Prinzip bis heute unverändert geblieben ist: Ein Kältemittel — heute ist es der berüchtigte FCKW — entzieht beim Übergang vom verflüssigten in den gasförmigen Zustand seiner Umgebung Wärme. Lindes Patent, das in Testläufen die vaterländische Palme gegen den Franzosen Picet davontrug, war eine Frucht der deutschen Bierkultur; Brauereidirektoren wie Sedlmayr und Deiglmay hatten Lindes Forschungen finanziert und griffen ihre Resultate begierig auf.

Bei Minus 237 Grad hört selbst die Bewegung der Moleküle auf

Lindes Kühlmaschinen waren zuverlässig, effektiv und berechenbar, aber unhandliche Ungetüme, gerade brauchbar für die bald in Mode kommenden Eispaläste und Freilufteisbahnen. Als individuelles Massenprodukt reüssierte der Kühlschrank, ähnlich wie das Automobil, zuerst in den USA. Während der deutsche Ingenieur, gründlich und patriotisch in seiner energetischen Knausrigkeit, lieber dem Phantom einer „idealen Maschine“ nachjagte, als sich um den praktischen, gar betriebswirtschaftlichen Nutzen zu kümmern, dachten die pragmatischeren Ingenieure jenseits des Atlantiks mehr vom Konsumenten her und weniger an knappe Ressourcen. So stand in den zwanziger und dreißiger Jahren in den USA schon fast in jeder Küche ein Kühlschrank, als in Deutschland noch die zentralen Eisfabriken und Kühlhäuser das Stadtbild prägten. Es waren dies wuchtige lichtlose „Kälteburgen“, die nicht zufällig an Tresore und Schreine erinnerten: Die spätere Kühlhausarchitektur hat mit ihrer nüchternen Funktionalität viel zur Durchsetzung des Bauhausstils beigetragen. Von hier stammte das Stangeneis, das der Eismann unter dem Geschrei der Kinder in die Gaststätten und Wohnungen schleppte — ein ausgestorbener Archetyp urbanen Lebens wie der Zeitungsjunge oder der Kohlenträger.

Ungeachtet unterschiedlicher Technologiestile hatte sich bis zum letzten Krieg in Europa und Nordamerika eine ununterbrochene „Kühlkette“ vom Erzeuger bis zum Verbraucher etabliert, die die Lebensmittel aus der Abhängigkeit der natürlichen Reife- und Verfallsprozesse befreite. 1876 beförderte der erste Kühlfrachter tiefgefrorenes Fleisch aus Argentinien nach Europa, 1902 traf zum ersten Mal eine Banane in Bremen ein (1913 waren es schon mehr als zwei Millionen Büschel), und in den Kühlhäusern begannen sich die Butterberge und Milchseen auszudehnen. In den Kaufhäusern wurden in den Eispalästen der Tiefkühlabteilung multikulturelle Märkte eingerichtet. Pizza und Putenschnitzel, Fischstäbchen und Nasi Goreng: Die ganze Welt exotischer Genüsse liegt jetzt hygienisch verpackt in Reichweite des Käufers — freilich in eiskalten Särgen, „naturidentisch“ genormt und aller sinnlichen Qualitäten — Farben, Gerüche, Formen, gar Geschmack — beraubt.

Der Kühlschrank, jenes wundersame Perpetuum mobile, das Wärme in Kälte verwandelt, wurde in der Nachkriegszeit zum strahlendweißen Statussymbol, ein Gerät wider die Natur und Symbol des Wirtschafstwunders, das überdies den ausgebombten Keller ersetzte. Perfekter Automat, der den Haushalt von den Unwägbarkeiten des Wetters und der Jahreszeit emanzipiert, ist der Kühlschrank das gefrorene Schlaraffenland. Die verkehrte Welt der Dinge, die sein Inneres birgt, enthüllt sich beim Öffnen wie das Allerheiligste im Tabernakel in mildem Licht. Vor dem Warenfetisch kniet die Hausfrau.

Die Zeit, da Kühlschränke kolossale Schmuckstücke der Küche sein durften, liegt gut 30 Jahre zurück. Was heute ein unauffälliges, selbstverständliches Möbel ist, von Designern weitgehend verschont, galt der Kunst spätestens seit der Pop-Art als Ikone der Konsumgesellschaft. Mal wurde der Kühlschrank, als Objet trouvé dadaistisch aus seinem Funktionszusammenhang gelöst und zum „abgetauten Readymade“ verschrottet; mal wurde er ironisch zum Füllhorn der Moderne, mal kritisch zum Symbol der Erstarrung stilisiert. Op- und Pop-Künstler wie Tom Wesselmann, Richard Hamilton, Peter Saul oder Andy Warhol präsentierten die „Icebox“ in menschenverachtenden Interieurs: She, der geöffnete Tresor, als amerikanische Wunderkammer. Beuys installierte mit Filz und Fett seine Gefrierfleischtruhe als Menetekel kaltgestellten Lebens.

Die Eistruhe mag heute kaum mehr zum ikonographischen Signal taugen; das Eis selber aber wird als Material der Kunst um so beliebter. In welchem Stoff ließe sich die Krise des Werkbegriffs angemessener versinnlichen? Instabil, flüchtig, unbegrenzt verfügbar und historisch unbelastet, entspricht das Eis am ehesten jenem Prozeß, den Kunsthistoriker als „Entmaterialisierung des Kunstobjekts“ bezeichnen. Schon weil es ohne dauernde Energiezufuhr und eine passende Umgebung nun einmal schmilzt, kann es die Macht der Umstände, den sozialen Kontext, ja, die ganze Endlichkeit der Welt vorstellen — und sich, wo erwünscht, sogar der Vermarktung entziehen. Kein Wunder, daß sich Konzeptionalisten und Minimalisten, Fluxus-, Aktions- und andere Artisten in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf diesen Werkstoff kaprizierten, wie die prekären Werke der Abteilung „Kunst-Eis“ in Nürnberg zeigen. Ein Eis-Urinal, 1977 als provokante Hommage à Duchamp gedacht, hat sich leider wie so viele Eisplastiken inzwischen der Neugier des Publikums entzogen. Aber eben diese zufallsbedingte Änderung des Aggregatzustands, die Ästhetik der fließenden Grenzen läßt sich selber zum Kunstmittel, der schmelzende Widerstand zum kreativen Programm erheben. Schneemänner im Heizkraftwerk und kinetische Eisplastiken, Fillous Frozen Exhibition und HA Schults Eingefrorene Bewegung verkünden die Botschaft des Eises, legen Zeugnis ab von der Problematik künstlerischen Schaffens. Reiner Ruthenbeck etwa legte 1971 einen gefrorenen Block aus 1,5 Liter Tusche in den Kühlschrank und verweigerte sich damit, gut konzeptionalistisch, jeder Konkretion seiner Kunst. „In Kälte gebunden, wird das kreative Potential durch die Zeit gebracht“, erläutert der Katalog.

Wenn das Museum gewissermaßen ein Kühlhaus für Objekte ist, die dem Fluß der Kunstproduktion entrissen werden, dann kann auch der Kühlraum zum Museum werden, das sein Material dem Zeitfluß entzieht. Daß der Eis-Künstler dabei auf die Hilfe der Technik angewiesen ist, kann ihm nur recht sein; schließlich läßt sich so beiläufig demonstrieren, wie an der entropischen Tendenz der Natur alle konstruktive Absicht künstlerischen Tuns zuschanden wird. Trotzdem wird das Berliner Duo Micheel/Winkler womöglich sauer sein. Ihre Rauminstallation Antarktisches Alluvium — in einer Kühlvitrine ruht ein großer Eiswürfel aus 12.000 Jahre altem antarktischem Eis nebst Atomuhr — sollte den Abgrund zwischen Urzustand und der kurzen Menschheitsgeschichte „gedanklich und emotional nachvollziehen“ helfen. In Nürnberg nun aber zerfloß der mächtige Eisblock wegen eines Defekts in der Kühlanlage zu Wasser und einem jämmerlichen Häufchen Eis. Glücklicherweise läßt sich jedoch, was Eis betrifft, der Urzustand wieder rekonstruieren.

„Das Ideal wird nicht widerlegt — es erfriert.“ (Nietzsche)

Leichter haben es da die Dichter und Denker, wenn sie, wie kürzlich wieder Werner Herzog, das „Gehen im Eis“ propagieren. Der Rückzug in die Kälte, der Aufstieg ins Gletschereis gehört zu den gewöhnlichsten künstlerischen Exerzitien, seit Nietzsche dem starken Freigeist „das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge“ empfohlen hatte: „Ein Irrtum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt — es erfriert.“ Übermenschlich hoch droben, kalt gegen Leidenschaften und Leiden, muß er sein Mütchen kühlen, unter einem nihilistisch ausgekühlten Himmel. Der Kälte-Kult, als Reaktion gegen warmherzige Philanthropie und überhitzte bürgerliche Salons schon vorgezeichnet bei den Dandies und schwarzen Romantikern, wurde in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts zu einem Massenphänomen. Der kühl kalkulierende Unternehmer wurde vom Popanz zum Mythos des Kapitals; ihm zur Seite stand der kalt entschlossene bolschewistische Funktionär. Max Weber lobte das „Kältebad des Intellekts“, Psychoanalytiker den „Kälteschock der Geburt“.

Kühl bis ans Herz zu bleiben, wo andere zittern und dahinschmelzen, gehörte nachgerade zum Pathos, wenn nicht zur Überlebensstrategie so verschiedener Geister wie Benn und Däubler, Jünger oder Brecht. „Sie werden bemerkt haben“, polemisierte der letztere 1924 gegen Thomas Mann, „daß sich die Luft in ihrem letzten Jahrzehnt abgekühlt hat. Dies kam nicht von allein und wird nicht aufhören von allein, ,irgendwo‘ waren Gefriermaschinen in Tätigkeit. Nun: wir waren es, die sie bedienten.“ „Lobet die Kälte“, dichtete der frühe Brecht in geschichtsphilosophischer Dekadenz, „es kommt nicht auf euch an/ Und ihr könnt unbesorgt sterben.“

Die Helden des Amerikanismus wollten die herrschende Kälte in ihrer intellektuellen Praxis noch einmal überbieten, um alles Behaglich- Gemütliche und aufgewärmt Sentimentale aus Kunst, Musik, und Literatur, Design und Architektur zu verscheuchen; die „warmen Nebelwelten“ der tröstlichen Glaubensgewißheiten mußten ein für allemal erfrieren. Der kalte Blick war ein Synonym für die Moderne, und bevor es wärmer werden konnte, mußte es erst ganz kalt werden. Daher die kühle Sachlichkeit des Bauhaus, daher auch der kompensatorische „Kältestrom“ des Marxismus, zu dem sich sogar ein Bloch bekannte — und darum läßt noch Enzensberger die „Titanic“ des Fortschrittsglaubens an einem Eisberg zerschellen.

„Alle Gefühle tausendmal gefühlt/ tiefgefroren, tiefgekühlt“ (Ideal)

Zur Dialektik dieses „Hindurch“ durch notwendige Eiszeiten gehört freilich auch, daß sich nicht alle freiwillig erkälten wollen. Konservative priesen die Nestwärme der Familie oder der Volksgemeinschaft als ideologisches Winterhilfswerk. Heute regulieren Thermostate wie die therapeutische Gefühls- und alternative Geborgenheitskultur, die künstliche Wärme postmoderner Erkerchen und Heimatmelodien das soziale Klima. Am kaltschnäuzigen Zeitgeist der U-Bahn-Schächte, der Neonröhren und der „Coolness“ der frühen Achtziger, als New-Wave- Gruppen wie „Ideal“ noch die „Eiszeit“ besangen („Alle Gefühle tausendmal gefühlt/ tiefgefroren, tiefgekühlt“), mag sich kaum noch jemand aufwärmen. Die Kältetechnologie lehrt, wie sich Kälte aus verdampfender Wärme gewinnen läßt. Der zweite Hauptsatz der Wärmelehre gilt freilich auch für soziale Systeme: Abkühlungsprozesse sind unumkehrbar — es sei denn unter Aufbietung gefährlicher fundamentalistischer Energien. Zivilisation ist Eis, und mit der Produktion künstlicher „Gebrauchskälte“ geht offenbar immer auch ein unangenehmer gesellschaftlicher Kälteschock einher.

Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Juli im Nürnberger Museum für Industriekultur zu sehen, danach vom 20. September bis zum 29. Dezember im Münchner Stadtmuseum. Der Katalog Unter Null kostet 48 Mark.