DAS UNKRAUT DER ERKENNTNIS

■ "Erreich' ich jemals das Genie? O Na nie!"

Genie ist 1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration“, meinte einst Thomas Edison — wobei sich das Schwitzen nicht nur auf harte Arbeit bezog, sondern auch auf die Angst, nicht beim Abkupfern erwischt zu werden. In seinem Falle von dem zeitweiligen Kooperations-Partner und eigentlichen Genie der Elektrizität, Nicola Tesla, dessen Geistesblitze der geschickte Bastler und Vermarkter Edison in die Praxis umsetzte. So kennt heute alle Welt das „Genie“ Edison, den erleuchteten Tesla aber, außerhalb Jugoslawiens, kaum ein Mensch.

Und doch wird auch der nächste große wissenschaftliche „Durchbruch“ wieder von viel Männerschweiß begleitet sein — wenn man einer Untersuchung von Dean Simonton („Scientific Genius: A Psychology of Science“) Glauben schenken darf. In den letzten zehn Jahren hat der Psychologe der Universität von Kalifornien Leben und Karrieren von 2000 Wissenschaftlern untersucht und ist zu dem Schluß gekommen, daß introvertierte Workaholics, die regelmäßig Kritik auf sich ziehen, zwanghaft Risiken eingehen und Projekte vorantreiben, die auf den ersten Blick irrsinnig erscheinen, die besten Aussichten haben, zu den Genies von morgen zu gehören.

Keine sonderlich neue Erkenntnis, schon Aristoteles hatte befunden, daß kein großes Genie ohne eine gehörige Portion Wahnsinn auskommt, und Cesare Lombroso hatte es zu Anfang dieses Jahrhunderts in seiner berühmt-berüchtigten Untersuchung „Genie und Wahnsinn“ dezidiert bestätigt. Er ging sogar so weit, die körperliche oder seelische Schädigung als die eigentliche „Quelle des Ruhms“ auszumachen — nach Lombroso verdanken wir die „missing links“ der Evolutionslehre mehr oder weniger direkt dem Stottern des Charles Darwin; und die roboterartige Präzision des Newton-Universums ist dem verkrüppelten Körper des kleinen Isaac geschuldet. So wenig ernst solche Ansichten heute noch genommen werden, so stabil hat sich doch ihr Mythos gehalten, wie unlängst das Geraune über das neue „Genie“ Stephen Hawkins gezeigt hat.

Nach Ansicht von Fachleuten hat er mit seinem Vorschlag, statt eines rätselhaften Gottes ein kaum weniger magisches Schwarzes Loch an Anfang und Ende des Universums zu setzen, die Rätsel der Schöpfung keineswegs gelöst — dem Publikum aber schien es quasi ausgemachte Sache, daß die definitive Theorie der kosmischen Unendlichkeit jemandem kommen muß, der sich auf der Erde nicht einen Schritt allein bewegen kann. Irgendwo in der Völkerseele scheint sich die Parole „Handicaped is beautiful!“ eingeprägt zu haben, und wer weiß, ob nicht auch die Theorie des „Kommunikativen Handelns“ ihren Erfolg im Geheimen nur der Hasenscharte von Habermas verdankt.

Im Ernst glauben wir nur den Statistiken, die wir selbst gefälscht haben — und so ist es auch bei solchen antiken oder modernen Genie-Statistiken. Von der Relativitätstheorie sind sie quasi unbeleckt, auch wenn Einstein der Studie von Simonton als „Modell-Athlet“ diente. Die „Verrückten“ oder „Kranken“ mögen signifikant häufig sein, in anderen Bezugssystemen, etwa „Ernährungsgewohnheiten“ werden sich ebenfalls reichlich „Genies“ finden lassen, von Goethe („Ich lebe sehr diät und halte mich ruhig, damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhn“) bis zu den Vegetariern Gandhi und Hitler. Und wer die Ahnenreihe anerkannter Geistesringer auf ihre Rauschgewohnheiten abklopft, kann schnell zu dem Schluß kommen, daß ohne Drogen beim Dichten und Denken nichts zu machen ist. (Mens sana in campari soda.)

Auch auf der anderen Seite relativieren andere Bezugssysteme die Perspektive: Was ist ein Genie? Verfährt die Genie-Forschung nur im historischen Rückblick, drohen ihr dieselben Tautologien wie der Evolutionslehre: Sie verkündet das Überleben des Überlebenden bzw., daß sich Genie eben immer durchsetzt — ein Genie ist nicht wirklich genial, wenn es seiner Unterdrückung nicht entkommt. Für die gesteigerte Nutzbarmachung genialischer Potentiale bedeutet dies, nicht nach hinten, auf die Strategien der Genies von gestern (und Irrlehrer von morgen) zu blicken — sondern auf die aktuellen Strategien, mit denen das intellektuelle Unisono den außer sich geratenden Intellekt unterdrückt. Und statt immer mehr „Wahn“ zuzulassen, immer mehr Mittelmaß züchtet. Genie aber läßt sich nicht nicht züchten, es muß als Unkraut wuchern — wie sonst sollte es jemals unvorhergesehene Wege entdecken? Es steht also auf dem Felde der Wissenschaft eine völlig neue Art von Job- Sharing an: Die C-4-gedüngten Hochschul- Transpiranten müssen zur Kooperation mit dem gesamten Unkraut „verkannter Genies“ gebracht werden. In einem Joint-Venture, bei dem pflichtbewußte Staatsbeamten den inspirationsgeschwängerten Irren das notwendige Maß an Normalität abnehmen. Und dem Unkraut Platz zum Wuchern lassen.

„ERREICH'ICHJEMALSDASGENIE?ONANIE!“