Ein fremdartiges, sinnbegabtes Zaubertier

Traumstunden mit Titus: Mozarts späte Seria an der Deutschen Oper Berlin  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Von Elisabeth Eleonore Bauer

Manche Leute meinen immer noch, Mozart müsse vor allem Karl-Böhm-schön sein. Andere wiederum mögen Echtklang und Originalton. Daß es wohl drittens auch schön und echt zugehen kann in einer Mozartoper, das hat der dreißigjährige Dirigent Franz Welser-Möst jetzt in der Deutschen Oper Berlin gezeigt.

Leicht, aber nicht leichtfertig. Lyrisch, aber nicht schmalzig. Schnell, aber nicht schlampig. Witzig, aber nicht kokett. Dramatisch, aber nicht fett. Im Detail genau, aber nicht buchstabiert. Kurz: ein Spitzendirigat, das sämtliche WAM-Klischees wieder aus der Welt zu schaffen weiß. Jede Orchesterstimme spielt ihren Part, als wäre sie allein das Ganze: bebt die Bewegung, atmet die Akzente, lebt die Pausen, präzise auf den Punkt gebracht. Alle zusammen sind sie wie ein vielgliedriges, fremdartiges, sinnbegabtes Zaubertier. Noch nie war die beliebte Wunschkonzert-Ouvertüre zum Titus so betörend zu hören wie diesmal. Vielleicht passiert das auch nie wieder. Für die stürmischen Generalpausen im ersten Finale, für das Akkompagnato der Titus-Rezitative im zweiten Akt, für die konzertierenden Bläser in den Arien des Sextus und der Vitellia möchte man sich bei jedem Musiker persönlich bedanken dürfen, wie es („oh böhmisches Wunder“, schrieb Mozart 1791 aus Prag) bei der Uraufführung von La clemenza di Tito dem Klarinetten- Spieler tatsächlich auch widerfahren ist.

Gewiß hat das etwas zu tun mit der sensationellen Lakonie der Musik. Dieser Titus ist wohl die kürzeste Seria-Oper aller Zeiten, aber nie bloß kurz angebunden aus Gründen matter Routine und müder Verlegenheit gegenüber einer veralteten falschen Form, wie man lange Zeit behauptet hat. Wenn überhaupt, dann ist diese Knappheit ein Merkmal der Formvollendung. Ein gräßliches Wort: „Voll-Endung“. Das klingt wie satt und tot. In Wirklichkeit hört die Musik in den Titus-Nummern nie auf, ohne jenen Rest zu lassen, den der Mensch zum Begreifen braucht. Zwei Beispiele aus vielem: Die Primadonna oben auf der Bühne, in den letzten Zügen ihrer letzten großen Szene, wendet sich bittend und fragend dem Graben zu, von welchem ihr Hilfe kommt, denn alsbald sind die Rollen überraschend vertauscht zwischen Orchester und Sängerin. Das verzweifelte Liebesduett der Nebenfiguren im ersten Akt, die einander entsagen wollen und sich doch nicht lassen können, beginnt in weiter Distanz und findet zusammen in engster Homophonie. Aber bevor sie darin allzu selig werden, ist es auch schon wieder vorbei.

Wer Ohren hat, soll hören. Worte sind, wenn es um Musik geht, sowieso nur hölzerne Krücken. Aber auch Bilder braucht man im Opernhaus, heute mehr denn je, weil ja die meisten Leute nur noch mit den Augen zu hören pflegen. Für die Freunde des Regietheaters und die Liebhaber bedeutungsbunter Bilder- Bögen wurde diese Titus-Premiere freilich zu einer schweren Prüfung. Kaum was zu gucken, worüber sich in der Pause klug daherscheißen ließe. Dunkel, leer und zeitlos der Bühnenraum, statisch geometrisch die von Hans Schavernoch gestaltete Einheitsbühne: Ein Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit - verbunden nur durch eine endlos steile, enge Marmorstiege, auf der Titus Vespasian, der glücklose Imperator, in der Einsamkeit seiner Machtfülle kaum Spielraum hat. Seine Untertanen und Widersacher aber steigen aus der Tiefe auf und werden vom unerbittlich rotierenden marmornen Mühlrad der Drehbühne mitunter beinahe zermalmt.

Wenn sie dann glücklich auf der Bühne stehen, wird den Sängern vom Regisseur Jean-Louis Martinoty eine Menge abverlangt. Sie müssen, was sie singen — die ganze Bandbreite widersprüchlicher Affekte — zugleich auch in bewegte Bilder bringen, nur angewiesen auf die eigene Körpersprache und beinahe ganz ohne die Stütze plakativer Requisite. Da wird viel gewagt: Bekenntnisse mit dem Rücken zum Publikum und intime Duette, die die kilometerweite Leere der Bühne von einem bis zum anderen Ende durchmessen. Unanständig heftige Ausbrüche, aber auch feine psychologische Gesten, die schon aus der zehnten Parkettreihe nur noch mit dem Operngucker zu haschen sind. Es ist am Ende erstaunlich, wie wenig davon im Ganzen verloren geht. Vielleicht liegt das daran, daß die Figuren mit einer Intensität aufeinander bezogen sind, die den Bezug nach außen, zum Publikum hin, beinahe überflüssig macht. Martinoty läßt nicht Oper spielen. Er spielt La clemenza di Tito.

Was an diesem Spätwerk sonst so schwierig erscheint — die Dichte der Handlung, die Konvention ihrer Auflösung und die Brüche in den Charakteren —, das alles hebt sich in dieser Inszenierung wechselseitig wieder auf. Gerade die komplexe Widersprüchlichkeit der Figuren ist ja der Grund dafür, warum es erst so verwickelt zugehen und dann so einfach enden muß. Und nicht zuletzt hat die Regie mit akribischer Arbeit am Detail auch ein banales Grundübel der Seria überwunden: die Unglaubwürdigkeit von Kastraten im Liebhaberkostüm beziehungsweise von Frauen in Hosenrollen. Sextus (Mariana Cioromila) und Annius (Camille Capasso) stampfen nicht leonorenmäßig betont burschikos über die Bühne, sie bewegen sich frei und selbstverständlich elegant, genau so, wie hochnäsige junge Männer sich eben bewegen.

Außerdem singen sie ganz hervorragend, wie alle anderen auch: Gwendolyn Bradley als Servilia, Lucy Peacock als Vitellia, Peter Seiffert als Titus. Zwar trumpft keiner und keine auf mit dem, was man so landläufig eine große Stimme nennt. Aber das ist in dieser Oper auch besser so. Der helle Klang der vielen hohen Stimmen schafft im Verein mit dem durchsichtig geschärften Orchester und der klaren Szenerie immer wieder den Eindruck, daß dieses Opernereignis ein paar Zentimeter über dem Boden schwebt. Musik, Bild und Bewegung finden zusammen zu einer Sensation — und das heißt auf gut deutsch soviel wie: einer „Empfindung“. Traumstunden. Das Premierenpublikum war zur einen Hälfte hingerissen und zur anderen Hälfte irritiert und darum ziemlich böse.

Was noch zu wünschen übrig bleibt? Ein paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel, daß man in der Pause die Drehbühne ölt, die im zweiten Akt zuweilen empfindlich knarrte. Daß das Ding überhaupt gegen Ende hin ein- oder zweimal weniger rotiert. Daß Titus seinen Königsmantel nicht gar zu oft aus- und anziehen muß und daß er seine zweite Arie nicht ganz oben auf der Treppe beginnt, wo die Stimme akustisch absäuft. Schließlich, daß der sture Cembalist, der die Secco-Rezitative zu begleiten hatte, gegen einen mutigeren ausgewechselt werde, sowie, daß die Deutsche Oper sich einen neuen Chefdirigenten vom Kaliber Welser-Möst an Land ziehen möge.

W.A.Mozart: La clemenza di Tito . Regie: Jean-Louis Martinoty. Bühne: Hans Schavernoch. Mit Mariana Cioromila, Gwendolyn Bradley, Peter Seiffert. Deutsche Oper Berlin.