„Preußen“ hat sich in Bonn verschanzt

■ Die Hauptstadt ins neue Territorium!

Wer in Bonn alles beim alten lassen will, geht wie jene Piemonteser vor, die nach der Vereinigung Italiens im Jahr 1861 die Hauptstadt am liebsten in Turin belassen hätten. Bonn kontrolliert mit seinen Beamten dann die neuen Provinzen im Osten, wie Turin einst seine Carabinieri und Präfekten gen Süden schickte.

Die italienischen Politiker begriffen damals allerdings, daß sich — wenigstens auf der symbolischen Ebene — irgendetwas ändern müßte, um die ökonomische Vorherrschaft des Nordens tolerierbar zu gestalten.

Das war keine schmerzlose Entscheidung. Als 1864 das Parlament beschloß, die Hauptstadt nach Florenz zu verlegen, kam es in Turin zum Aufstand: Nach der zweitägigen Revolte zählte man 23 Tote und Hunderte von Verletzten. Schließlich waren es die Piemontesen, die „Italien gemacht“ hatten (so wie die Preußen das Reich und die Bonner die Wiedervereinigung), und sie fühlten sich ihres politischen Vorrangs beraubt. Ebensowenig konnten sie den Verlust im Geldbeutel akzeptieren: In Turin brach der Immobilienmarkt zusammen.

Trotz der Schärfe des Konflikts ging der Umzug nach Florenz in sechs Monaten über die Bühne. (Heute gibt es Leute, die wollen zehn Jahre, um den Umzug nach Berlin zu bewerkstelligen.) Florenz blieb dann nur von 1865 bis 1871 italienische Hauptstadt. Im Jahr 1870 profitierte der italienische Staat dann von der Niederlage, die Preußen dem Garanten der territorialen Unabhängigkeit des Papsttums, Napoleon III., bereitete, und brachte Rom in seine Gewalt. Noch einmal packten 140.000 Beamte die Koffer, noch einmal in Rekordzeit.

Auch die Landung in Rom beruhigte die Geister nicht. Unter den Norditalienern kursierten Argumente, die gleichermaßen ehrenhaft waren wie die angeblichen föderalen Tugenden Bonns: Das päpstliche Rom, hieß es, sei zu korrupt und parasitär. Und im Norden meinen noch heute viele, daß die Post und die Eisenbahn funktionieren würden, falls Mailand die Hauptstadt wäre. Auch die Verlagerung des politischen Zentrums nach Süden hat die Frage des Mezzogiorno nicht gelöst. Und dennoch wäre die Geschichte sicherlich um einiges schlimmer verlaufen, falls die Hauptstadt in Turin geblieben wäre. Die Hauptstadt Rom war zwar keine Wiedergutmachung für den annexionistischen Ursprungsmakel der staatlichen Einheit, aber sie milderte ihn wenigstens.

In Deutschland geht das Hauptstadt-Dilemma nicht auf das Jahr 1871 zurück; damals hatte Berlin in seiner Mittellage zwischen Königsberg und dem Elsaß keine Konkurrenz. Es stellt sich heute, wo Bonn ebenso weit entfernt ist von den neuen Provinzen — und das nicht nur geographisch — wie Turin von Palermo. Wer es jetzt im Namen der Kritik am preußischen Zentralismus mit Bonn hält, merkt nicht, daß das „Preußen“ von heute sich gerade in Bonn verschanzt hat: die Residenzstadt der politischen Klasse, die die Regeln der Vereinigung diktiert hat.

Falls die sozialen Argumente, die es verlangen, einer Marginalisierung des Ostens etwas entgegenzusetzen, nicht ausreichen, sollte man wenigstens im Namen der Realpolitik — an einen Rat Machiavellis denken: „Falls du ein neues Territorium erwirbst, verlege dorthin deine Hauptstadt.“

Ein taz-Beitrag von Guido Ambrosino, Korrespondent von 'il manifesto‘, Rom