785 Tage Einzelzelle in Oslebs

■ Über einen Angeklagten, der seit über zwei Jahren in U-Haft sitzt

„22 Kubikmeter Luft“ hat jemand mit schmalen schwarzen Buchstaben an die Wand neben dem Eingang geschrieben, für ungeübte Augen kaum sichtbar. Durch den Spion der massiven Holztür mit dem überdimensionalen Eisenschloß kann man die sieben Quadratmeter auf einen Blick erfassen: Weiß getünchte Wände, rechts die Toilette und das kleine Waschbecken, direkt gegenüber Eisenbett, schmaler Holzschrank, Tisch und Stuhl. Durch das kleine Kippfenster dringen die Schatten der Gitterstäbe, kühle Luft fällt auf den Betonfußboden. Hoch über allem verteilt eine Neonröhre ihr Leuchtstofflicht auf die Stille — Einzelzelle sechs der Untersuchungshaft in Oslebshausen.

„Manchmal bin ich so nervös, daß ich die ganze Zeit hin und her laufe, auch nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Dann habe ich das Gefühl, ich bin ganz allein im Haus“, sagt Cuma Deveceker. Der 32jährige Türke sitzt bereits zwei Jahre und drei Monate in U-Haft. 785 Tage hat er davon in Einzelzelle sechs verbracht. Obwohl der Haftbefehl gegen ihn wegen „Fluchtgefahr“ und nicht weil „Verdunklungsgefahr“ bestand, erlassen wurde. Die Anklage lautet: Verstoß gegen das Betäubungsgesetz. Deveceker soll einen Transport von 20 Kilogramm Heroin von Istanbul über Bremen nach Spanien organisiert haben. Das Kuriose dabei: Das Heroin ist bis heute weder gefunden noch jemals gesehen worden. Der Verdacht, Deveceker habe mit der bis jetzt recht undurchsichtigen Geschichte zu tun, beruht einzig und allein auf der Aussage eines Mitangeklagten.

Dafür über zwei Jahre im Knast zu sitzen, findet Deveceker „viel zu viel“. „Am Anfang ging es mir ganz schlecht. Ich dachte, ich werde verrückt, fast den ganzen Tag allein“, erzählt der U-Häftling. Außerdem macht ihm inzwischen seine Gesundheit arg zu schaffen. „Jeden Morgen nach dem Frühstück muß ich mich übergeben, das wird immer schlimmer. Wenn ich mit dem Bus zum Gericht gefahren werde, muß ich immer eine Tüte dabei haben.“ Auch das Herz tut ihm seit einiger Zeit weh. In einem Gutachten vom 9.5.1991 schrieb der Gerichtsmediziner Dr.v.Karger dazu, Deveceker sei zwar zur Zeit haft-und verhandlungsfähig aber „aus rein ärztlicher Sicht ist eine Haftentlassung empfehlenswert, weil sie zu einer Linderung der subjektiven Beschwerden führen würde.“

Auch U-Haftleiter Wefer, den so leicht nichts erschüttern kann, ist eine „so ungewöhnlich lange U-Haft-Zeit“ noch nicht untergekommen. „Ich zweifel daran, ob das wirklich der Rechtsfindung dient“, sagt er. Auch Leute, wie der „ziemlich disziplinierte“ Deveceker würden mit der Zeit weich, einige seien unter den verschärften Haftbedingungen auch schon durchgedreht.

Doch die Verhandlung dauert und dauert. Um die Unschuld ihres Mandanten zu beweisen, haben die beiden Anwälte Erhardt Heimsath und Christian Rosse Zeugen aus der Türkei und Spanien herangezogen und das kostet Zeit. Da müssen zahlreiche Anträge gestellt, Tonbänder von Telefonaufzeichnungen abgehört und übersetzt, Verhandlungen mit den zuständigen Behörden im Ausland angeleiert und Zeugen eingeladen werden. Aber nicht nur deshalb zieht sich die Rechtsfindung hin. Nach der ersten Hauptverhandlung, die vom 9.November 1989 bis Februar 1990 lief, mußte das Verfahren wegen „Befangenheit des Gerichtes“ ausgesetzt werden. Die neue Kammer trat aber erst am 14. September 1990 zusammen. „Ganze sieben Monate und fünf Tage lief überhaupt nichts“, empört sich Deveceker, der inzwischen ungeduldig wird. Im Gegensatz zum normalen Strafvollzug, wo wöchendlich eine Stunde Besuchszeit ist, darf er seine Frau und die vier Kinder nur 30 Minuten in der Woche sehen. Ständig anwesend ist dabei ein Beamter und Dolmetscher. „Das letzte Mal durften immer nur zwei der Kinder je 15 Minuten in das Besuchszimmer, die anderen mußten draußen warten“, erzählt er. Seine Bitte, ihm Arbeit zu geben, wird beharrlich abgelehnt. Nichts für ihn zu tun.

„Diese Zellenhaltung erschwert eindeutig die Verhandlungsführung“, sagt Verteidiger Christian Rosse, der mehr und mehr als psychologe gefordert ist. Zusammen mit Anwalt Erhardt Heimsath hat er bereits einige Male versucht, die Lage von Deveceker zu verbessern. „Unsere Anträge auf längere Besuchszeiten ohne überwachung, bessere ärztliche Versorgung und Arbeitsmöglichkeiten blieben ohne Reaktion. Weder von der Richterin noch von der Anstaltsleitung hielt man es für nötig zu antworten“, ist die Bilanz der Anwälte. Birgit Ziegenhagen