Bier oder Opium

Thomas de Quincey und Jean Paul, ein Gipfeltreffen  ■ Von Willi Winkler

Süchtig waren sie beide, stilvoll und vom Adel der eine, für den es schon Opium sein mußte. Beim anderen tat das bayrische, das fränkische Bier den gleichen Effekt, das unselige Vergessen über die Zustände, gleich ob englischer oder deutscher Natur. Schreckensmänner waren sie, wie sie bei Arno Schmidt im Buche stehen, für die Literaturgeschichte nicht faßbar, in ihrer Überproduktion dem gewöhnlichen Kopf zu gewaltig, in der Phantasie zu furchteinflößend. In die Schulbücher sind sie gleichwohl eingegangen, ein Schicksal, kaum zu vermeiden, ist man einmal und unwiderruflich tot. Und da stehen sie dann, als Käuze, weil man die ja nicht ernst nehmen, schon gar nicht lesen muß: der Deutsche Jean Paul (1763-1825) und der Brite Thomas de Quincey (1785-1859).

In seltsamer, welthistorisch einmaliger Konjunktion fanden sie zusammen, im Dezember 1821, als Thomas de Quincey im 'London Magazine‘ sein maßloses Loblied auf einen geistesverwandten Vetter veröffentlichte („John Paul Frederick Richter“). In einem fiktiven Brief an den „lieben F.“ kann De Quincey „nicht umhin, John Paul Richter für den mit Abstand eminentesten Künstler dieser Richtung seit Shakespeares Zeiten zu halten“. Kaum je hat sich ein Autor für einen anderen mit solch liebevoller Brachialgewalt eingesetzt, schon gleich gar für einen Ausländer, einen so dunklen noch dazu, wie es Jean Paul für englische Begriffe immer bleiben mußte.

Eigentlich hatten die beiden nur wenig gemein, wäre da nicht das Bedürfnis nach der Dröhnung gewesen. Der Autor der „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ war ein Reaktionär reinsten Wassers, Jean Paul dafür heimlicher Jakobiner, Sympathisant der Französischen Revolution, die er sich vergebens über den Rhein herüber wünschte. Allerdings verband die beiden ihre sinnlose und deshalb alles umfassende Gelehrsamkeit, eine Bildung, die sie schon früh von der jeweiligen Universität vertrieben hatte, weil sie da nichts mehr zu lernen fanden.

De Quincey soll bis zu zwanzig Gramm Opium täglich geraucht haben. Jean Paul, der Kleinbürger, blieb bodenständiger und hielt sich an heimische Produkte. In seinen späteren Jahren zog er Tag für Tag zum Arbeiten aus seiner Bayreuther Wohnung in ein Wirtshaus um, wo er nach seinen Fliegen und anderem Kleingetier sah, exzerpierte und schrieb und (zeitgenössischen Quellen zufolge) bis zu zwanzig Halbe trank. Mehr als einmal fiel er bei seinem nächtlichen Heimgang in den Stadtgraben. Zwei Nonnen, die ihn beim Wasserlassen ertappten, zeigten ihn verständnislos bei der Polizei an.

Nun ließe sich lange über die Tatsache sinnieren, daß man als größter deutscher Dichter in Franken nicht glücklich werden kann, aber Jean Paul wäre es wahrscheinlich nirgends geworden. Karl Philipp Moritz hatte den abgebrochenen Theologiestudenten als Autor entdeckt, der mit „Hesperus“ und der „Unsichtbaren Loge“ im „Werther“- Fieber sogleich zum Bestseller- Dichter avancierte.

Die Damen der besseren Gesellschaft hatten eben lesen gelernt, und der für sentimental gehaltene Jean Paul wurde zum Boudoir-Autor. Die schwärmerischen Leserinnen blätterten gern weiter, wenn sich Jean Paul in seinen eher schlichten Liebesgeschichten unterbrach und vom Leser/der Leserin verlangte, er/sie müsse jetzt unbedingt die folgende Digression über den Ehebruch lesen, der unvermeidlich aus dem langjährigen Zusammenleben von Eheleuten folge. Erst wenn sie sich da durchgekaut habe, die „schöne Leserin“, dürfe sie nach dem weiteren Verlauf der Romanze forschen. Die gesamte Erzählung vom „Schulmeisterlein Wuz in Auenthal“ ist mit ihren hundert Seiten als Fußnote gedacht und für meinen Geschmack mehr wert als der ganze dramatisch knarzende Schiller.

Was seine Leserinnen interessierte, ob die Liebenden denn auch zusammenkommen, ob das unterirdisch verborgen gehaltene Königskind endlich auf den Thron gelangt, ob der gute Albano über den bösen Rocquairol triumphiert, war Jean Paul herzlich egal; ihm kam es auf die krause Mischung an, auf „das Tolle neben dem Schönen“, wie Rolf Vollmanns wunderbares Jean-Paul-Buch nach einem Zitat aus der „Unsichtbaren Loge“ heißt.

Als erfolgreicher Autor ging er, wie sich das in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts gehörte, nach Weimar. Die Damen dort liebten ihn dafür, daß er stundenlang mit ihnen schmachten konnte. Er unterhielt die Gesellschaft der bis dahin intellektuell unterbeschäftigten Frauen mit seinem Klavierspiel und seinem reiche Anekdotenschatz, gezogen aus Pandekten und Scharteken aller Literaturen, erarbeitet in der bittersten Armut des Vogtlandes, als er bei seiner Mutter in der Küche saß, gepeinigt nicht von edlem Weltschmerz, sondern einem richtigen Haß auf das Duodez-Deutschland; so schrieb er seine ersten Satiren, „Auswahl aus des Teufels Papieren“.

Der geistliche Vater, früh verstorben, hatte die Familie unversorgt zurückgelasssen. Zu Lebzeiten hatte er das furchtsame Kind nachts auf Botengänge durch die dunkle Kirche geschickt und ihm damit einen immerwährenden und tödlichen Schrecken eingejagt. Diese Nachtseiten haben ihn nie wieder losgelassen, siehe seine private Apokalypse, die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“.

Die Damen der Gesellschaft liebten ihn, wenn sie auch nichts verstanden nicht seinen Zorn, dem Gefühl, lebenslang zurückgesetzt worden zu sein. Eine der adeligen Grazien, war es Frau von Kalb oder Frau von Berlepsch, ließ ihn bei einem zärtlichen Tête-a-tête sogar ihre Brüste tasten (wie er einem Freund in einem verwunderten Brief berichtete), aber heiraten wollte er sie dennoch nicht.

Für Goethe und Schiller, das auf klassische Zucht bedachte Hausmeister-Ehepaar der deutschen Literatur, war er ein „Traglaph“, sie wußten nichts anzufangen mit einem, der „aus dem Mond gefallen“ war. Er kam sichtlich von woanders her, war nicht von dieser kleinhöfischen Welt, sondern ein Freigeist, tatsächlich einer, der sich nach einem der unsäglichen Goethe-Sinnsprüche in der Stille gebildet hatte, in der Armut, aus Büchern, die er sich, wie sein Schulmeisterlein, notfalls selber zusammenschrieb, weil er sich die Originale nicht leisten konnte.

Nur die komischen Figuren, Herder, Ludwig Gleim und Moritz, begriffen etwas von diesem hereingeschneiten Waldschrat, diesem seltsamen Genie. Und Thomas de Quincey.

Thomas de Quincey, selber so belesen, daß er von Zeit zu Zeit einfach seine Wohnung zusperrte und sich eine neue suchte, weil ihn die Bücher aus der alten verdrängten, wirft sich mächtig ins Zeug, um seinen Geistesbruder zu rühmen, insonderheit dessen funklenden Witz, das, was anderen als dunkel gilt: „In der Tat ist dieses gefährliche Witzgas bei John Paul so verschwenderisch vorhanden, daß ich denke, falls seine Werke nicht explodieren, fliegt auf irgendeine Art John Paul selbst dieser Tage in die Luft.“ De Quincey benutzt, wie billig, die Gelegenheit zu einer jeanpaulisierenden Digression: „Der schrecklichste Fall, der mir je begegnete, ist der folgende; und da ich sehnlich wünsche, solch eine prächtige Geschichte zu glauben, wäre ich erleichtert, wenn mir bekannt würde, daß sie schon einmal jemand geglaubt hat.“ Wie bei Carl von Linnés „Nemesis Divina“ wird daraus eine Geschichte von sadistischer Detailfreude, die sich im Gewande der moralischen Erzählung am unverfänglichsten verkauft: „Im Jahr 1818 bestand ein Ire und großer Verehrer des Whiskys eigensinnig auf dem Wagnis, eine Kerze auszublasen, obwohl man ihn oftmals vor diesem Fehler gewarnt hatte. Jedenfalls blies die Kerze den Iren aus, und das Nachfolgende wurde von dem Leichenbeschauer beschworen: Der Ire schoß davon wie eine Rakete von Congreve, raste mit der Geschwindigkeit eines Vierundzwanzigpfünders durch, ich weiß nicht wie viele, Stockwerke und stieg auf zum 'highest heaven of invention‘, der Dachkammer nämlich, wo ein Schneider und seine Frau schliefen. Federbetten, die bekanntlich Kanonenkugeln aufhalten, gaben dem irischen Schädel nach: wie ein Bohrer ging er durch zwei Matrazen, ein Federbett &c., und kam grinsend vor dem Schneider und seiner Frau zu stehen; indessen ohne seine Beine, die er in der zweiten Etage gelassen hatte.“

Natürlich meint De Quincey auch sich, wenn er am Werk des Deutschen rühmt, es sei die „Galaxis am Firmament der deutschen Literatur“. Wie Jean Paul faszinieren ihn Monstrositäten. Den Fehlgeburten, an denen sich Jean Pauls Dr. Katzenberger weidet, entspricht bei De Quincey das Ableben des großen Immanuel Kant: „Zunächst wurde der Atem schwächer, dann unregelmäßig, schließlich stockte er ganz, und die Oberlippe zuckte leicht.“

Für einmal hatten sich zwei große Geister verstanden.

Thomas de Quincey: John Paul Frederick Richter. Ein Essay in Briefform über Jean Paul. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben mit einem Nachwort von Peter Klandt. Friedenauer Presse, Berlin. 32 Seiten, 16,80 DM.