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Füllmasse Nationalismus

„Mütterchen“ Rußland muß erst noch herausfinden, wer es ist. Mit dem Zerfall des SU-Imperiums und der Abspaltung verschiedener Unionsrepubliken stellt sich den Russen zunehmend die Frage nach ihrer Identität. Die extremen Nationalisten knüpfen dabei an die zaristische Trinität von „Autokratie, Orthodoxie und Volkstum“ an. Ob sie sich gegen die „westliche Dekadenz“ durchsetzen oder ein liberales Nationalgefühl siegt, ist offen.  ■ VONKLAUS-HELGEDONATH

Kommen zehn Engländer zusammen, so unterhalten sie sich sofort über Stempelsteuern oder submarine Telegraphenkabel; sind's zehn Deutsche, so wird natürlich über Schleswig-Holstein und die Einigung Deutschlands gesprochen; besteht die Gruppe aus zehn Franzosen, nun, dann kommt schon unvermeidlich Erotisches aufs Tapet; begegnen sich aber zehn Russen, so entsteht unter ihnen augenblicklich eine endlose Diskussion über ,Rußlands Bedeutung und Zukunft‘. Sie drücken, sie saugen, sie kauen an dieser unglückseligen Frage wie Kinder an einem Gummi und — mit dem gleichen Erfolg.“

Diese bissige und zweifelsohne zugespitzte Charakterisierung nationaler Eigenheiten legte der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew dem Helden Potin in seinem Roman Rauch in den Mund. Das war 1867. Heute, fast Eineinvierteljahrhundert später, hat die Charakterisierung nur wenig an Aktualität eingebüßt. Wieder einmal zimmern die Deutschen an ihrer Einheit und die Russen suchen zwischen den Trümmern ihres Riesenreiches nach den verschütteten Spurenelementen der eigenen Identität. Die anderen Völker? Sie haben unterdessen Zeit für Produktives oder gar Angenehmes.

Heißblütig und leidenschaftlich diskutierte die russische Intelligenz im 19.Jahrhundert Rolle und historische Mission des russischen Volkes. Den Anstoß hierzu lieferte seit Beginn der Französischen Revolution die heranreifende Erkenntnis, daß die Entwicklungen im eigenen Land im Vergleich zum fortschreitenden Wandel im Westen hoffnungslos stagnierten. Dabei hatte man sich schon Anfang des 18. Jahrhunderts, zu Zeiten Peter des Großen, einer, wie man es nannte, „Europäisierung“ verschrieben. Noch unter der Regentschaft von Katharina II. herrschte offiziell der Glaube vor, das Zarenreich könne es durchaus meistern, den kulturellen Vorsprung des Okzidents wettzumachen, um sich einen gleichwertigen Rang unter den westlichen Nationen zu erobern.

Das Motto vom „Einholen und Überholen“ hat somit Tradition und ist keine originäre Erfindung Chruschtschows und der jüngeren Sowjetära Rußlands. In den weitschweifigen Diskussionen des 19. Jahrhunderts drehte es sich vornehmlich um eine Frage: Soll sich Rußland auf den Entwicklungspfad des Westens begeben, dessen Zukunft noch ungewiß war und der von sozialen Eruptionen des Frühkapitalismus heimgesucht wurde? Denn noch zeichnete sich nicht ab, worauf dieser Kapitalismus hinausliefe. Es galt also, sich darüber ein Urteil zu verschaffen, das natürlich nur spekulativ ausfallen konnte. Wird es dem Kapitalismus gelingen, die wahren menschlichen Werte zu fördern oder wird er die Völker ins Unheil stürzen? Kurz, verkörpert er das sittlich „Gute“ oder „Schlechte“?

Vielleicht war in ihm aber auch nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer egalitären kommunistischen Gesellschaft zu sehen? In diesem Fall hieß es zu prüfen, ob Rußland zur Verwirklichung dieses Ideals nicht auf direktem Wege gelangen könnte — unter Umgehung der qualvollen Leiden kapitalistischer Krisen. Wer sich für diese Variante des Fortschritts entschied, mußte zwangsläufig in Gegensatz zu Zar und Leibeigenschaft geraten. Wer allerdings in Rußland ein Bollwerk gegen die Verirrungen des Kapitalismus und eine Feste gegen Umsturz und Anarchie sehen wollte, der versuchte die Stagnation als einen Idealzustand philosophisch zu untermauern. Die Protagonisten des Wandels erhielten den Label „Westler“. Je nach Couleur war es Auszeichnung oder Schimpfwort. Die beharrenden Kräfte, die Rußland und dem russischen Volk einen besonderen tieferen Sinn in der Weltgeschichte zuschrieben, seine moralische Überlegenheit priesen und für einen vom Westen isolierten Sonderweg plädierten, legten sich die Sammelbezeichnung „Slawophile“ zu. Dazu später mehr. Diese Spaltung hat sich bis ins heutige Rußland als ideologische Verortung erhalten. Beinahe wäre sie in Vergessenheit geraten. Stünde nicht Rußland zum dritten Mal innerhalb von drei Jahrhunderten, nach Peter dem Großen, der Oktoberrevolution und Gorbatschowscher Glasnost vor der gleichen Weggabelung.

Zerfall der Sowjetunion weckt russische Neurose

Allen politischen Hauptströmungen der Russen ist die Suche nach ihrer nationalen Identität eigen. Doch ihre Gemeinsamkeit erschöpft sich vielfach schon bei der Suche. Die Antworten, die dem historischen Erbe entlehnt werden, sind höchst heterogen. Allein der kollektive Rückbezug verdient Aufmerksamkeit. Hier soll nur die Rede sein von der Russischen Föderation, der größten Republik der UdSSR und ihrer russischen Bevölkerung. Für die übrigen Völker stellt sich die nationale Frage völlig anders.

Die Russen sind nicht freiwillig in die Tiefen ihrer Geschichte hinabgestiegen. Es waren die anderen Völker der UdSSR, allen voran die Balten, die mit ihrem Aufbegehren nach Unabhängigkeit die Russen zunächst in eine defensive Trotzhaltung trieben. In bemerkenswert kurzer Zeit wurde aus dem „älteren Bruder“ — mit dem die kommunistische Propaganda das Staatsvolk den kleineren Völkern gerne andiente — ein Unterdrücker und Okkupant. Wie konnte das nur geschehen? Seit den Zeiten Stalins hatte die sowjetische Propaganda keine Chance ungenutzt gelassen, die Entbehrungen herauszustreichen, welche die Russen um der Entwicklung der anderen willen freiwillig geübt hatten. Und nun das! Empört und zornig reagierten viele Russen auf die undankbaren Republiken. Den Zorn steigerte der handfeste Druck, der auf die russischen Minderheiten vor allem in den mittelasiatischen Republiken ausgeübt wurde. Und dann trafen die ersten Flüchtlinge ein. Somit gab es ein reales Problem. Denn die Flüchtlinge wurden zu Konkurrenten um alles und jedes in den ohnehin unterversorgten Ballungsgebieten.

Diese Erfahrung förderte noch etwas anderes zutage. Sie offenbarte in den Augen der Russen an einem handgreiflichen Beispiel die virulente Krise der Moskauer Zentralmacht. Weder konnte oder wollte sie die Konfliktherde befrieden noch gelang es ihr, die Bedürfnisse der Flüchtlinge zu befriedigen. Parallel dazu verlor die Sowjetmacht auch auf der internationalen Ebene ihre imperialen Trophäen: Das sozialistische Lager klappte über Nacht zusammen, die Stellung des Großen Bruders in den Ländern der Dritten Welt bröckelte und Deutschland wurde wiedervereinigt. Deutschland, das war das letzte Symbol imperialer Größe. Mit seiner Freigabe war auch die Rolle des Siegers im Zweiten Weltkrieg entwertet. Eine Rolle, aus der die kommunistische Macht Jahrzehnte nicht zuletzt auch die Legitimation ihrer Herrschaft bezogen hatte. Binnen so kurzer Zeit führte alles zusammengenommen zu einer fast kollektiven Neurose. Der Schock sitzt tief. Denn der weitaus größte Teil der Russen hat sich mit den Machtstrukturen der Union identifiziert. Spätestens seit der Stalin-Ära basiert die nationale Identität der Russen auf der imperialen Idee. Rußland war für sie nicht nur der eigene ursprüngliche Siedlungsraum, sondern das in Jahrhunderten eroberte Reich. Multiplikatoren dieser Großmachtideologie waren Schule, Wissenschaft, Armee und Massenmedien. Auch diese Institutionen hat mittlerweile ein Gefühl der Verunsicherung erfaßt. Die Einsicht in die Unaufhaltbarkeit des Zerfalls hat sich dennoch bisher nicht flächenübergreifend durchgesetzt.

Ablehnung der Unionsidee wächst

Das Unionsreferendum im März dieses Jahres war ein erneuter Versuch der imperialorientierten sogenannten „Internationalisten“, die Reichsidee noch einmal hinüberzuretten. Das Ergebnis bestätigte zweierlei: Noch immer hält die Mehrheit der Russen in Stadt und Land an der Unionsidee fest. Aber schon in den Großstädten zeichnet sich ein deutlich gegenläufiger Trend ab. In Moskau und Leningrad, den beiden größten Städten des Landes, sprachen sich über fünfzig Prozent der Bevölkerung gegen die Unionsidee aus. Die Ablehnung speist sich aber nicht aus einheitlichen Motiven, wie wir noch sehen werden.

Zunächst ein Blick auf die Inhalte der nationalen Rückbesinnung und ihre spezifische Form des Nationalismus. Zunächst ist da die Gruppe der „Bewahrer des Imperiums“. Ihre Traditionslinie läßt sich bis in die unmittelbar nachrevolutionäre Periode des Bürgerkrieges zurückverfolgen. Damals hießen sie „Nationalbolschewiken“. Sie lehnten zwar die bolschewistische Ideologie ab, sahen aber in den Kommunisten die einzige Kraft damals, die das territoriale Erbe des Zarismus wiederherstellen konnte. Auf Privateigentum, Religionsfreiheit und Parlamentarismus wollten sie gerne verzichten, wenn dafür nur Zentralasien, der Kaukasus und die Ukraine bei Rußland blieben. Dies ist zweifelsohne die abstrakteste Identifikation mit der Reichsidee. Die entschiedensten „Bewahrer des Imperiums“ heute rekrutieren sich natürlich aus der Staats- und Parteibürokratie der unterschiedlichsten Ebenen. Zu ihnen gesellen sich Polizei und Militär. Ihre klare Parteinahme verwundert nicht, denn ihre Existenz und ihr soziales Prestige sind direkt mit dem Erhalt der Sowjetunion verknüpft. Das Unionsreferendum offenbarte, daß diese Haltung leicht im Schwinden begriffen ist. Damit verliert sie aber nicht automatisch an Brisanz: „Der Anteil der Imperialisten kann praktisch auf Null sinken und dann plötzlich wieder auf fast hundert Prozent steigen. Aber es genügen zehn Prozent Aktive, um die Arbeit zu tun“, warnte kürzlich Anatoli Streljanij in der 'Literaturnaja Gaseta‘.

Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Nicht alle Russen, die sich für einen Erhalt der UdSSR aussprechen, gehören automatisch in diesen Kreis. Es geht hier vornehmlich um Aktivisten, die auf die eine oder andere Weise ihr politisches Credo in Organisationen oder Institutionen umzusetzen versuchen. Die politischen Überzeugungen können dabei einen sehr weiten Rahmen umspannen. Das zeigte schon das Beispiel der Nationalbolschewiken. In diesem Segment trifft man auf fast alle politischen Orientierungen. Das Spektrum reicht von orthodoxen Kommunisten über Liberale und Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche bis hin zu faschistischen Organisationen. Nationalistische Umweltschützer sind genauso mit von der Partie wie Stalinisten, Antikommunisten und Antisemiten. Ja sogar Monarchisten. Der Sozialismus, wenn er nicht in Bausch und Bogen als eine Verschwörung des jüdischen Freimaurertums denunziert wird, taucht höchstens nochmal in Lobpreisungen Stalins und des Zentralismus auf. Oder aber in Versuchen, die Arbeiterschaft gegen Juden, Intellektuelle oder andere Minderheiten aufzuhetzen. Wenn man überhaupt von einer Ideologie sprechen kann, dann ist sie ein eklektisches Amalgam, das je nach Interessenlage funktionalisiert wird.

Arbeiterfronten — konservative Reserve

Ein Beispiel hierfür lieferte die Leningrader Dozentin Nina Andrejewa. In einem Brief, der 1988 in der konservativen Tageszeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ veröffentlicht wurde, rief sie die beharrenden Kräfte dazu auf, sich gegen den Perestroika-Kurs zu erheben. Mittlerweile, auch das ist bezeichnend für dieses rechte Spektrum, treibt sie in mehreren Organisationen ihr Unwesen. Wichtige Träger dieses Radikalismus sind die „Interfronten“ in den nichtrussischen Republiken mit starken Unabhängigkeitsbewegungen. Ihre Organisatoren entstammen meist dem Milieu der Militärs, sind russische Betriebsleiter oder Funktionäre. Sie versuchen die russischsprachige Bevölkerung gegen die Unabhängigkeitsbewegungen zu instrumentalisieren.

Was in den anderen Republiken die „Interfronten“, sind in der Russischen Föderation (RSFSR) die diversen „Arbeiterfronten“. In Leningrad firmiert sie unter dem Namen „Vereinigte Arbeiterfront“. Im September 1989 wurde föderationsweit ein Dachverband gegründet: Die „Einheitsfront der Arbeiter Rußlands“. Damals waren Vertreter aus 29 Städten erschienen. Ihr Groll richtet sich gegen Spekulanten und die ersten zarten Pflänzchen einer Marktwirtschaft: die privaten Kooperativen. Am liebsten würden sie sie mit Stumpf und Stil ausrotten. Nur konsequent haben sie den Kampf gegen Ausbeutung und Versklavung auf ihr Banner gehoben und wollen den Export von Bodenschätzen in die kapitalistische Welt unterbinden. Aber auch sie verlangen eine Stärkung der Russischen Föderation gegenüber der SU, sprich mehr Autonomie.

Hierin sind sich fast alle einig, auch die radikal-demokratische Opposition. Doch entstammen ihre Motive anderen taktischen Kalkülen. Die Front folgt dabei gleichen Überlegungen wie die konservativen russischen Parteimitglieder in der KPdSU. Im letzten Jahr riefen sie eine eigene russische Kommunistische Partei ins Leben. Denn in der KPdSU war den konservativen Nationalisten zu jenem Zeitpunkt noch der Zugang zu Machtpositionen verbaut. Bei Wahlen 1989 und 1990 konnten ihre Kandidaten keine Mehrheiten erreichen. Fortan setzten auch die Konservativen auf die russische Karte. Im Vergleich zu anderen Republiken verfügte die Russische Föderation über keine eigene ausgebaute politische Infrastruktur. Lange Zeit hatte es als ein Vorteil gegolten. Drückte sich darin doch die Führungsrolle der Russen in der UdSSR aus. Die Belange und Interessen der Union und der RSFSR schienen identisch. So hatte Rußland nicht einmal ein eigenes Innenministerium. Heute sieht man das anders. Vielen konservativen Kommunisten stellt sich die Identifikation des Russischen mit dem Sowjetischen als eine Entnationalisierung Rußlands dar.

Für die Unzahl der stramm rechtsgewirkten Organisationen, in denen häufig nur wenige Leute mitarbeiten, ist es entscheidend, daß sie auf Hilfe aus staatlichen Apparaten, den Gewerkschaften oder renommierten Institutionen wie dem Schriftstellerverband der RSFSR bauen können. Und noch eins darf man nicht unterschätzen: Sie können sich auf logistische und mediale Unterstützung von einer ganzen Reihe bekannter Zeitungen und Zeitschriften verlassen. Zu den wichtigsten zählen die Tageszeitung 'Sowjetskaja Rossija‘, die Tageszeitung des kommunistischen Jugendverbandes 'Molodaja Gwardija‘ und das Wochenblatt 'Nasch Sowremmenik‘. Schon Ende der sechziger Jahre provozierten sie einen Konflikt zwischen liberal-demokratischen, nach Europa orientierten Kräften, die sich um die Zeitschrift 'Nowij Mir‘ gesammelt hatten und fremdenfeindlichen, autoritären Antiwestlern.

Den Konflikt beseitigte die damals noch omnipotente Parteiführung. Sie entließ schlichtweg das Redaktionskollegium von 'Nowij Mir‘ und ließ die Gegenseite mit einem schwachen Verweis davonkommen. Indirekt kam dies einer Ermutigung gleich — und der Grund dafür: Der Parteiapparat akzeptierte den Chauvinismus und Imperialismus der russischen Intelligenz als tragende Säulen des Sowjetregimes.

Eine der berüchtigsten Exponenten des Rechtsradikalimus ist die National-Patriotische Front Pamjat, zu deutsch Gedächtnis. Sie erlangte sehr schnell einen hohen Bekanntheitsgrad, weil sie schon sehr früh sehr laut mit antisemitischen Parolen hausieren ging. Ihre Mitglieder, nur Männer, zwängte der Vorsitzende Dmitrij Wassiljew in martialische Uniformen. Wohl bewußt sollen damit Assoziationen an die SA der Nazis geweckt werden. Wassiljew ist ein Antikommunist. Oktober- und Februarrevolution verdammt er gleichermaßen. Pamjat gehört nicht zu den mitgliederstarken Gruppen. Einige Hundert sollen es sein. Interesse verdient sie aus einem anderen Grund. Wie keine andere Organisation der Rechten verkörpert sie am konsequentesten die Doktrinen des russischen Messianismus und der Slawophilen des 19. Jahrhunderts.

Die Entstehung des Nationalbewußtseins führt auch in Rußland in die Zeit der napoleonischen Befreiungskriege zurück. Hier wurzelte, wie es der konservative russische Historiker Karamsin beschrieb, die tiefe Verbindung zwischen der monarchistischen Autokratie und dem Nationalgefühl, die so kennzeichnend wurde für den offiziellen russischen Patriotismus. Während sich in den westeuropäischen Ländern die Völker gegen die reaktionäre Herrschaft erhoben, blieb dieses innige Band in Rußland unbeschadet erhalten. Ja, die Jugend schwelgte im Nationalstolz. Schien es doch so, als sei die Macht Rußlands im europäischen Maßstab unter Nikolaus I. grenzenlos. Der ukrainische Dichter Nikolai Gogol faßte dieses Gefühl des ungestümen Stolzes und der Grenzenlosigkeit in die Verse:

„Jagst du nicht auch, Rußland, so dahin/ Wie ein keckes, unerreichbares Dreigespann?/ Rauchend dampft unter dir der Boden,/ Es dröhnen die Stege. Und alles bleibt zurück,/ Weit hinter dir zurück/ ... Wie von Winden zerfetzt, braust und erstarrt die Luft;/ Alles auf Erden lebt und webt, fließt vorüber./ Und es weichen vor dir, treten zur Seite und geben Raum/ Alle anderen Staaten und Völker!“

Russophile als Bewahrer vor westlicher Dekadenz

Von hier war der Weg nicht mehr weit zu dem Glauben an eine besondere Mission aller slawischen Völker. Unter der Führung Rußlands versteht sich. Richtig besehen, verbargen sich hinter den „Slawophilen“ nämlich „Russophile“. Um die Jahrhundertmitte war der russische Messianismus noch durchwoben von einem sittlichen und religiös fundierten Verantwortungsgefühl gegenüber Westeuropa. Dem „verfaulenden Westen“ mit seiner Rationalität, seiner Amoralität und seinem Individualismus stellte man das Bild des wahren Rußland gegenüber. Dieses Rußland war das bäuerliche Rußland vor der Zeit der vom Westen inspirierten Reformen Peters des Großen. Das mittelalterliche Rußland wurde in ihren Lobpreisungen bis zur Unkenntlichkeit idealisiert. Einer ihrer Wortführer Aleksej Chomjakow:

„Das Lebensprinzip ist noch heil, stark und unanfechtbar in unserem großen Rußland ... Trotz unserer langen Irrungen und unseren zum Glück nutzlosen Anstrengungen, seinem lebendigen Körper unseren Tod einzuimpfen. Unser Leben ist heil und stark. Es ist als unantastbarer Pfand von jenem schmerzensreichen Rußland bewahrt worden, das unsere karge Halbbildung noch nicht übernommen hat ... Nur in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Volke kann der Mensch aus der tödlichen Einsamkeit des egoistischen Daseins heraustreten und zum lebendigen Organ eines mächtigen Organismus werden, nur darin ist jene Bildung möglich, die der Westen vergeblich anstrebt und infolge seiner inneren Entzweiung nicht erreichen kann.“

In Chomjakows Vorstellungswelt entspricht der Westen einem Bild totaler innerer Zerrissenheit. Diesem hält er eine Vision der russischen Gesellschaft entgegen, die auf Ganzheitlichkeit, Gemeinschaft und Einmütigkeit beruht. Dieses Motiv künstlicher Harmonisierung und Homogenisierung zieht sich seither als roter Faden durch die russische Geschichte. Wie von allein fügt sich in dieses Muster die Überhöhung der altrussischen Dorfgemeinschaft, des „Mir“, der privates Eigentum nicht kannte. Kaum verwunderlich, daß neben Nationalisten auch Sozialisten darauf später zurückgriffen. Doch ein wesentliches Moment ist bisher unterschlagen worden: die Bedeutung der „prawoslawije“, der Rechtgläubigkeit, wie sich der russisch-orthodoxe Glaube nennt, und die Rolle der Kirche.

Boris Jelzin integriert Nationalismus der Liberalen

Chomjakow schreibt dem orthodoxen Glauben eine grundsätzliche ethische und spirituelle Überlegenheit zu. Die Orthodoxie unterscheide sich vom Katholizismus durch ihre Freiheit und vom Protestantismus durch ihre Einheit. Viele Slawophile begriffen die Kirche als die gemeinschaftsstiftende und einigende Kraft. Die einzige, die den Anspruch erheben konnte, das Volk wirklich zu erziehen. Die Unterwerfung der Kirche unter die weltliche Macht, wie sie Peter der Große vollzogen hatte, lehnten sie eigentlich ab. Während die Slawophilen die Nähe zwischen Kirche und Volkstum hervorhoben, versuchte Nikolai I. seine Autokratie kirchlich zu untermauern. Das brachte beide Seiten einander näher. Für den späteren Gogol avancierten Autokratie und Orthodoxie bereits zu den tragenden Säulen des russischen Lebens. Und nicht nur das. Beide spiegelten gar die adäquaten Ausdrucksformen des russischen Charakters wieder. Wenig später fand auch der nationale Gedanke Aufnahme in die offizielle Ideologie, so wie es sich die Slawophilen gewünscht hatten. Fortan war die Rede von der Trinität aus „Autokratie, Orthodoxie und Volkstum“. Logischerweise entwickelte sich aus der Autokratie und der Rechtmäßigkeit nur einer Kirche die Vorstellung, daß es auch nur ein Volk, nämlich das russische sein könne, dem in diesem Staat die Macht zustünde.

Das autoritäre Syndrom ist bei den heutigen Slawophilen an vielerlei Merkmalen erkennbar: Xenophobie, Modernisierungsängste, überspanntes Harmonieverlangen, Verschwörungstheorien, der Glaube an die naturgegebene Selbstheilungskraft des Volkes, Verratsvorwürfe in ihrer dialektischen Entsprechung. Mit anderen Worten, völkische Überlegenheitsphantasien paaren sich mit einem tiefsitzenden nationalen Minderwertigkeitskomplex. Damit wäre das Spektrum der „Bewahrer des Imperiums“ abgehakt. So bedrohlich sie manchmal klingen mochten — auf lange Sicht werden sie weiter an Boden verlieren. Allianzen reichen meist über kurzzeitige gemeinsame Gegnerschaften nicht hinaus. Denn schon bei der Ausformulierung eines politischen Programms scheitern sie an ihren inneren Widersprüchen.

Die radikaldemokratische und liberale Intelligenz hat sich lange gescheut, die nationale Frage offensiv aufzugreifen. Nicht etwa wegen ihrer eher kosmopolitischen Orientierung. Die Leningrader Demokratin Marina Sali erklärt das mit der Scham, die die demokratische Opposition gegenüber den Völkern und Minderheiten verspüre, die Opfer der vandalistischen Politik der Sowjetmacht geworden sein. Von der Annexion der baltischen Staaten bis zum Einsatz russischer Truppen in Tbilissi. — „Alle diese Akte“, schreibt sie, „müssen in der russischen Intelligenz einen Schauer der Ohnmacht vor dieser Politik des Völkermordes auslösen, sie dem Gedanken an die Befreiung der eigenen Nation völlig entfremden und in ihr die Furcht wecken, in den Augen aller Demokraten innerhalb und außerhalb der UdSSR als Nationalisten dazustehen.“

Im vergangenen Jahr hat sich auch etwas in diesem Spektrum bewegt. Den Stein ins Rollen brachte die Souveränitätserklärung der Russischen Föderation. Seither tritt der Widersacher Gorbatschows, Boris Jelzin, mit aller Vehemenz für die Interessen seiner Republik gegenüber dem Zentrum ein. Jelzins Wahl zum Präsidenten Rußlands wird dieser Variante des liberalen Nationalismus oder auch Separatismus weiterhin Auftrieb geben. Denn sie speist sich aus zwei einfachen Wahrheiten: Nicht alle Republiken mit ihren unterschiedlichen politischen und psychologischen Voraussetzungen können gleichzeitig den Weg in die Marktwirtschaft antreten. Und um diese zu errichten, ist der Erhalt der Union schlichtweg zu teuer.

Dieser liberalen Spielart des russischen Separatismus, der eindeutig nach Westen gewandt ist, steht noch eine traditionalistische Variante gegenüber. Ihr wohl prominentester Wortführer ist Alexander Solschenizyn. In einem Manifest zur Zukunft Rußlands plädierte auch er für eine rigorose Aufgabe der alten Reichsidee. Ihm schwebt ein Verbund der slawischen Völker vor, der Russen, Bjelorussen und Ukrainer. Anspruch erhebt er auch noch auf Teile Kasachstans. Und was geschieht mit den anderen Republiken? Solschenizyn: „Die Trennung von zwölf Republiken, dieses scheinbare Opfer, wird Rußland für eine kostbare innere Entwicklung frei machen und schließlich seine Aufmerksamkeit und seinen Fleiß auf sich selbst richten... Und wenn einige dieser Republiken schwanken, ob sie sich von uns trennen wollen? Dann sind wir gezwungen, mit der gleichen Unerschütterlichkeit unsere Trennung von ihnen zu proklamieren, wir, die Bleibenden. Die Situation ist überreif und nicht mehr umkehrbar.“

Fundi Solschenizyn: Religion und Selbstbescheidung

Auch in Solschenizyns Denken überdauerte noch ein Quentchen des alten imperialen Geistes. Das zeigten die Reaktionen aus den anderen slawischen Republiken. Ihnen gefiel es gar nicht, daß man sie ungefragt wieder miteinbezog. Den Abgesang auf das Imperium verknüpft Solschenizyn allerdings auch mit einer Absage an die Wertewelt der westlichen Zivilisation. Er warnt vor der Übernahme eines fremden Wirtschaftssystems und den Gefahren, die Rußland drohen könnten, wenn es seine Rettung in ausländischem Kapital suche. Als Preis für den Auszug aus dem Kapitalismus dürfe man nicht die heimischen Bodenschätze an ausländische Kapitalisten verkaufen. Im Gegensatz zur westlichen Überflußgesellschaft plädiert er für ein Leben in Selbstbescheidung und Religiösität. Der sowjetische Literaturkritiker Sergej Tschuprinin bezeichnete dieses ideologische Konglomerat als russischen Fundamentalismus. Dieses Programm wolle die bewußte Trennung von der umgebenden gottlosen, dekadenten, habgierigen Menschheit, den Rückzug in die nationale Selbstisolation, Schließung der Grenzen und zwangsweise soziale und nationale Homogenisierung der russischen Bevölkerung .

Man mag Solschenizyns Entwurf belächeln, für irrational und nicht machbar halten. Dennoch bietet der neue Isolationismus Anknüpfung und Identifikation für einige unterschiedliche Positionen: Die Palette reicht von Monarchisten über Stalinisten bis hin zur orthodoxen Kirche.

Sollte Rußland tatsächlich zur Marktwirtschaft übergehen, werden die sozialen Spannungen noch erheblich steigen. Dann wird sich zeigen, ob Solschenizyns Vision nicht gerade für die marginalisierten Schichten an Attraktivität gewinnt.

Als kürzlich Russen in einer wissenschaftlichen Erhebung nach ihren nationalen Charaktereigenschaften befragt wurden, beschrieben sich die meisten als „einfach, offen, geduldig, friedlich, treu, zuverlässig, unpraktisch und verantwortungslos, erniedrigt und vergessen“. In der Analyse kommt der Autor Lew Gudkow zu dem Ergebnis: „Die normativen Modelle der nationalen Identifikation enthalten Muster einer gemeinschaftlichen, nicht-individualisierten Zugehörigkeit zu bestimmten Sozialstrukturen und kollektiver Solidarität, hinter denen sich das Wechselspiel von Herrschaft und Unterwerfung, Willkür und Gewalt verbirgt, das durch die symbolische Autorität und das Prestige der tragenden Macht kompensiert wird. Läßt man einmal den psychologischen Aspekt der ,Schlichtheit und Offenheit‘ gekennzeichneten und hoch veranschlagten Eigenschaft beiseite und wertet sie als Fähigkeit zum sozialen Austausch, so schlägt sie um in die Wunschvorstellung einer so gut wie unstrukturierten Gesellschaft, in mangelndes Verständnis für komplizierte gesellschaftliche Prozesse, in Xenophobie, mündet gar in Hilflosigkeit und Abhängigkeit gegenüber der autoritären und realitätssetzenden Quelle der Macht.

Mit anderen Worten der russische Fundamentalismus träfe auf einen außerordentlich fruchtbaren Nährboden in der Sozialpsyche. Der Kampf um Rußlands Identität und Zukunft wird sich zwischen diesen beiden Kontrahenten entscheiden, Fundamentalismus und liberalem Nationalismus. Man kann nur hoffen, daß sich Rußland nicht wieder für einen Leidensweg entscheidet.

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