Stunde der Wahrheit?

■ Bonner Politik und gesellschaftliche Realität

Die Hauptstadtdebatte ist zur Stunde der Wahrheit des deutschen Einigungsprozesses geworden. Die spannende Frage bei der gestrigen Parlamentssitzung war, wie nahe der Bundestag der Wahrheit kam, in der Stunde der Wahrheit. Wahrheit, ein zu großes Wort?

In der Debatte ging es darum, „die Teilung durch Wahrheit zu überwinden“ (Willy Brandt). Doch nur die Plädoyers für Berlin näherten sich der Realität des vereinten Deutschland an: die Ost-West- Spaltung der Gesellschaft; das Bewußtsein, daß es in „alten Bundesländern nicht so bleiben kann, wie es war“ (Schäuble); die Gefahr der „Erniedrigung der Bürger im Osten“ (Thierse); die Notwendigkeit eines „Neuanfangs“ (Conradi). Insbesondere Peter Conradi brachte das Problem dieser Entscheidung auf den Begriff: es geht um die selbstkritische Beurteilung des Einigungsprozesses selbst. Er kritisierte in seiner Bonn-Apologie die „Verschweizerung der Bundesrepublik“, eine Haltung, die gewissermaßen andeutet, „alle Gewalt geht vom Westen aus“.

Das Bedrückende an dieser Debatte, deren Niveau überraschte, war, daß die Bonn-Apologeten nichts von dieser Zuwendung zur Realität aufnahmen. Sie wandten ein Argumentations-Syndrom hin und her: Bonn gleich Föderalismus, gleich vierzig Jahre Demokratie. Vor allem die Jugend meldete sich zu Wort und beschwor ihre glückliche Bonner Vergangenheit als deutsche Zukunft. Die Betonung der politischen Glaubwürdigkeit und der Symbolik, so der jüngste Abgeordnete Bury (SPD), sei nur der Vergangenheit zugewandt. Als Vertreter der jüngsten politischen Generation sei man frei in der Entscheidung. Und das Weltbild der Jugend: Antinationalismus, das Europa der Regionen, die Pragmatik, die funktionierende Demokratie. Und das ceterum censeo: die hohen Umzugskosten nach Berlin. Die politische Wahrheit in dieser neuen Republik drückt sich also nicht im Streit der politischen Kräfte aus. Sondern die Formulierung der Wahrheit steht gegen die Apologie des status quo. Fällt die Entscheidung für Berlin, fällt die Ideologisierung von Bonn als demokratische Utopie zusammen. Bei einer Entscheidung für Bonn wird der Bundestag große Probleme mit dem haben, was in dieser Debatte an politischer Realität angesprochen wurde. Klaus Hartung