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Oft daneben, aber stets dabei

■ Auch in der Entscheidungsnacht herrschte bei der ARD gewohnte Verwirrung

Mitten hinein in die kitschigen Chöre und wohlerzogenen Tenöre des ARD-Wunschkonzerts aus Hannover knallten die Fernsehbilder aus dem Plenarsaal des Bundestages in Bonn. Die Live-Schaltung machte es möglich, die Augenweide Dagmar Berghoff mußte weichen, dafür hatte jetzt Rita Süssmuth das Wort. Dabei hätte die ARD vor lauter Umschalterei den Augenblick der Wahrheit fast verpaßt. Doch dann verkündete die Bundestagspräsidentin große Freude: Die Abgeordneten hatten sich durchgerungen für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung zu stimmen. Umschalten zu Fritz Pleitgen, dem Chefredakteur des WDR, der in gewohnter Eisigkeit nicht nur die Sondersendung moderiert hatte, sondern sich auch als Profi beim Anbaggern vorbeihuschender Parlamentarier erweist. Dann nimmt er sich den Kanzler zur Brust und gekonnt gelang ihm sogar noch eine „Abstauberfrage“: Wann ist Ihr nächstes Treffen mit Gorbatschow? Und schwupps wieder zurück in die Untiefen deutscher Unterhaltung. Nach der Verkündigung und den wohlgesetzten Worten der Polit-Prominenz hatte das Händelsche „Halleluja“, das aus den Gärten des Schlosses zu Hannover schallte, für den ergriffenen Zuschauer erst seine wahre Bedeutung gefunden.

Kribbeliges Warten auf die Tagesthemen. Und Frau Christiansen tut uns den Gefallen: Live-Schaltung auf den Ku'damm zu Berlin. Genauso haben wir's uns vorgestellt: ganz Berlin tobt. Ein ratloser Reporter vor Ort macht sich dann auch im johlenden und tosensen Andrang auf die Suche nach einem Berliner. Aber vorher hat sich noch ein munterer Dicker aus Köln herangedrängt, der vor Millionenpublikum schnell loswerden will wie er sich freut und ein weiterer Herr aus Arabien gratuliert, bis irgenwo, weit hinten — für den Zuschauer unsichtbar bleibend — ein Ostberliner aufgespürt wird, der als Stellvertreter der fünf neuen Bundesländer ins Mikrofon jubiliert. Jetzt brennen wir darauf, auch die Kehrseite der Medaille zu sehen. Wir wollen weinen mit Bonn. Neben Werner Sonne, altbewährtem ARD-Bonn- Korrespondenten, harrt schon der oberste Saaldiener des Parlaments, bleich und starr den Blick in die Kamera. „Es sind einige Tränchen geflossen, bei den Kollegen hinter den Kulissen“, kann er bestätigen, aber es wird keinen Putsch geben denn: „Auch wir sind gute Demokraten.“

Ein Kuckucksei hat die Tagesthemenredaktion ihrem Korrespondenten Robin Lautenbach in Leipzig ins Nest gelegt. Denn der soll in vormitternächtlicher Stunde die Stimmung einfangen. Doch außer den gewohnten Nachtschwärmern, den Taxifahreren, ist niemand mehr aufzutreiben. Leipzig ist schon zu Bett. Immerhin gelingt es einem der Droschkenkutscher die Ost-Gemütslage auf den Punkt zu bringen: „Die Entscheidung hat eine psychologische Wirkung.“ Sabine Rückert

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