Ein Symbol für ein gespaltenes Land

■ Über Realitäten, die in der Bundestagsdebatte durchschimmerten

Der Witz ist bekannt: Der Ostdeutsche sagt: „Wir sind das Volk.“ Der Westdeutsche antwortet: „Wir auch.“ Keine Frage, zu wessen Lasten die Pointe geht. Bei der Hauptstadtdebatte bekam diese Kollision im Witz eine gesellschaftliche Dimension. Stellvertretend für die Westdeutschen riefen die Bonner auf dem Marktplatz: „Auch wir sind das Volk!“ Daß diesmal der ideelle Gesamtwessi den kürzeren zog, ist kein Anlaß zum Triumph. Der Hauptstadtstreit und die Bundestagsdebatte standen unter plebiszitärem Druck. Das Verdrängte im politischen Management der deutschen Einigung kehrte wieder: die Tatsache, daß nur die „Geschichte“ und nicht die Westdeutschen gefragt wurden, ob sie und wie sie die Vereinigung wollen. Der plebiszitäre Druck war nicht zuletzt deswegen so stark, weil die Parteiendemokratie, weil die Parteien als Instrumente politischer Willensbildung eklatant versagten. Die Hauptstadtfrage war einer der seltenen Fälle, wo gegen organisierte und manifeste Interessenlagen eine politische Entscheidung durchgesetzt werden mußte. Das deutsche Parteiensystem ist offensichtlich einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Gerade deswegen allerdings war der Ruf der SPD nach dem Volksentscheid kein Ausweg, sondern nur Ausdruck dieser Unfähigkeit.

Angesichts des absoluten Ausnahmefalls, daß in einer Bundestagsdebatte die besseren Reden und Argumente gegen die eindeutigen Interessen der Habenden den Ausschlag gaben, fällt die politische Rhetorik zu sehr ins Auge. Eigentliches Thema der Hauptstadtdebatte und möglicherweise ihr unheilvolles Erbe ist der erbärmliche Untergang der Argumente für Bonn. Was da nicht zum Zuge kam, ist nicht weg. Die Veränderungen, die dieses vereinte, gespaltene Land aufnötigt, der ungewisse Druck östlicher Armut und östlicher Erwartungen wurde von den Bonn-Verteidigern als Ressentiment abgewehrt und — bewahrt. Als Ressentiment gegen nationale Forderungen, gegen symbolische Politik, gegen historische Entscheidungen. Die Pro-Bonner sahen sich verständlicherweise genötigt, eine positive Abschlußbilanz der Bonner Republik zu machen. Sie überzeugte nicht, weil sie unterging in Selbstgerechtigkeit und Apologie — die beschworenen Attribute föderalistisch, bescheiden, antinational, pragmatisch wurden gar nicht hinterfragt. Sie waren Fetische. Kein Bonner Eiferer für den Föderalismus setzte sich auseinander mit der Tatsache, daß 12 von 16 Bundesländern für Berlin optierten. Keiner setzte sich mit der Tatsache, daß „wir jetzt in einem anderen Land wohnen“ (Conradi), auseinander. Der Status quo an der Sonnenseite der Weltgeschichte wurde als Zukunft ausgegeben. Und dann der Auftritt der Töchter und Söhne der Bonner Republik: die bornierte Selbstgerechtigkeit einer Matthäus-Maier, die auf dem Wortlaut des Einigungsvertrags (verbale Trennung von Hauptstadt und Regierungssitz) beharrte und die Umzugskosten nachrechnete; die Mischung von Yuppietum und sozialer Betroffenheit junger Abgeordneter, die die Lippenbekenntnisse zu Berlin als Lippenbekenntnisse ad acta legen wollten. Allein Peter Glotz ging selbstkritisch und glaubwürdig auf die Geschichte früherer Berlin-Erklärungen ein und rechtfertigte gar Axel Springers Hoffnung auf die Wiedervereinigung.

Auch wenn in der Berlin-Verteidigung die Stadt immer als Symbol der notwendigen gesellschaftlichen Vereinigung beschworen wurde, so hat die Debatte eher gezeigt, wie tief und ressentimentbesetzt die Spaltung zwischen Ost und West ist. Keine Rede davon, daß die Berlin-Entscheidung die „Vollendung der deutschen Einheit“ darstelle, wie gestern die 'Berliner Zeitung‘ titelte. Gleichwohl: Nicht Bonn hat verloren, sondern das Land Nordrhein-Westfalen und sein fast übermächtiger sozialdemokratischer Lobbyismus. Die Rolle von NRW wurde in der Bundestagsdebatte kaum angesprochen. Es gab nur eine erstaunliche Anspielung ausgerechnet von Jochen Vogel: Er hielt den Bonn-Apologeten vor, daß sie spalten und nicht versöhnen würden — in direkter Anspielung an das einstige Wahlkampfmotto von Johannes Rau („Versöhnen statt spalten“). Tatsächlich warf die Debatte noch einmal ein Licht auf den Einigungsprozeß und die Verhandlungen zum Einigungsvertrag. De Maizière deutete an, daß NRW den Vertrag platzen lassen wollte, wenn Berlin als Regierungssitz festgeschrieben würde. Der damals erfolgreiche Lobbyist Rau ist die eigentlich unheilvolle Figur im Einigungsprozeß: Er hatte die NRW-Interessen durchgesetzt — aber damit die Oppositionsrolle der SPD zum allgemeinen Schaden gelähmt.

Es war nicht Verdienst, sondern die geschichtliche Logik, daß die Berlin-Befürworter über die zerrissene und risikovolle Realität der deutschen Gesellschaft reden mußten. Daß da ein moralischer Überschuß da war, geht gewiß auch aufs Konto dessen, daß man sich in der Minderheit wähnte. Es spielt aber auch ein Rolle, daß der Druck einer neuen Realität, auf den die politische Klasse so offensichtlich hilflos reagiert, sich zunächst als Moral anmeldet. Dennoch, auf ein paar allgemeine politische Ansprüche haben sich die Berlin-Verteidiger festgelegt und sollten in Zukunft daran gemessen werden: Vereinen heiße teilen; die Politik müsse sich am Ost- West-Widerspruch orientieren; politischer Neuanfang sei geboten. Neuanfang? Bislang wird noch nicht eine einzige gesellschaftliche Reformidee, die eigentlich aus der Vereinigung zweier Systeme entspringen müßte, diskutiert. So gut die Parlamentsdebatte war — in gesellschaftspolitischer Hinsicht war sie eher ein Pfeifen im Walde als die Fanfare eines Neuanfangs. Klaus Hartung