ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Still sein - Die Volksmusik der Sowjetunin auf Schallplatte

Nicht erst die aufbrechenden Nationalitätenkonflikte haben gezeigt, daß die UdSSR hinter dem Nebel ihrer staatlichen Einheitsideologie kaum mehr ist als ein zufälliges Konglomerat verschiedenster Völker, deren auseinanderstrebende Interessen nur noch mit der Androhung militärischer Gewaltmittel unter der Fuchtel der Zentralmacht zu halten sind. In den 15 Sowjetrepubliken leben über hundert verschiedene Nationalitäten, die wiederum aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen und regionalen Kulturen bestehen, von denen jede ihre eigene Geschichte, Lebensweise und Sprache hat — wie auch ihre eigenständige Musik.

In den bäuerlichen Dudelsack-Tanzweisen Estlands ist Europa präsent, während Asien in den Obertongesängen aus dem sowjetisch-chinesischen Grenzgebiet anklingt und der Orient in der Instrumentalmusik Aserbeidschans gegenwärtig ist. Diese ganze Vielschichtigkeit der „sowjetischen“ Volksmusik ist auf einer Platte dokumentiert (Musics of the Soviet Union), die charakteristische Musikbeispiele aus sieben verschiedenen Regionen der Sowjetunion enthält — ausgegraben aus den Archiven der staatlichen Schallplattenfirma Melodia.

Die Klänge, die man hier zu hören bekommt, sind das genaue Gegenteil der Balalaikaromantik und des operettenhaften Volksliedkitsches, der im Westen das Bild der russischen (Pseudo-)Folklore prägt. So bieten etwa die Frauenchöre aus Südrußland eine überraschende Hörerfahrung. Die enge Stimmführung und die kehlige Intonation ihres Gesangs lassen eine Verbindung zum „Mysterium“ der bulgarischen Frauenstimmen erkennen.

Einen tieferen Einblick in die uralten Vokaltechniken des ländlichen Rußlands bietet eine Platte des Dmitri-Pokrovsky-Ensembles — Titel: Gesichter Rußlands — Faces of Russia. In jahrzehntelanger Forschungsarbeit hat das russische Vokalensemble unter Pokrovsky — er ist Leiter des „Nationalen Zentrums für traditionelle Kultur der Sowjetunion“ — vor Ort versucht, in die Geheimnisse des traditionellen Volksgesangs einzudringen. Ein Schlüsselerlebnis vor fast 20 Jahren hatte Pokrovsky dazu gebracht, der Avantgardemusik, der er sich zu diesem Zeitpunkt widmete, abzuschwören und sich intensiver mit den Wurzeln der Musik seines Heimatlandes zu beschäftigen. „Ich befand mich im Urlaub in einem nordrussischen Dorf“, erzählt er, „und ganz zufällig hörte ich das Singen von fünf älteren Frauen, Großmütterchen, wie man sie bei uns nennt. Die Art und Weise, wie diese Frauen Töne und Laute produzierten, war ein Schock für mich. Die Lautstärke, die sie erzeugten, war stärker als die eines Düsenflugzeugs.“

Es folgten Jahre der systematischen Erforschung dieses Phänomens. „Wir stellten dabei fest“, so Pokrovsky weiter, „daß bei vielen der alten Gesänge ganz andere Atemtechniken praktiziert werden. Die Art, die Stimmbänder zu bewegen, war ähnlich dem natürlichen Schreien. Auch die Artikulation ist eine andere als die, die wir vom normalen Singen her kennen. Stimmbänder und Rachen werden beim Singen weit aktiver eignesetzt.“ Über die Jahre haben die Mitlieder des Pokrovsky Ensembles viele der überlieferten Gesangstechniken erlernt, vergessene Lieder und Melodien ausgegraben und sich das Spiel auf den traditionellen Instrumenten angeeignet, was manchmal extreme Formen annahm. So lebte und arbeitete ein Mitglied einen ganzen Sommer lang bei einem Schäfer, um von ihm das Musizieren auf einem speziellen Tierhorn zu erlernen. Allerdings wehrt sich das Vokalensemble dagegen, als Hauptstaatsarchiv russischer Folklore betrachtet zu werden. „Es ist nicht unsere Hauptaufgabe, Lieder zu sammeln und zu archivieren“, erklärt Pokrovsky. „Es gibt genügend andere Instititutionen, die sich damit beschäftigen. Es gibt Millionen gesammelter Lieder, aber die sind tot und zudem der breiten Öffentlichkeit praktisch nicht zugänglich. Wir sehen unsere Aufgabe darin, diese Lieder lebendig zu machen.“

Von alten russischen Hochzeitsgesängen über russisch-orthodoxe Kirchenchoräle bis zu Liedern der Terrick-Kosaken reicht das musikalische Spektrum ihrer ersten Plattenveröffentlichung im Westen, die allerdings nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrem enormen Repertoire von über zweitausend Titeln bieten kann.

Vokalmusik von nicht minder großer Eindringlichkeit ist neben Rußland auch im südlichen Teil der Sowjetunion, in Armenien, anzutreffen. Seit seiner Christianisierung im 4. Jahrhundert hat sich hier eine Liturgie herausgebildet, die Elemente des vorchristlichen heidnischen Liedguts in selbstverständlicher Weise in die neuen Gesänge integriert hat. So entstand in den Klöstern Armeniens ein Gesangsstil, der wie der orientalische Zwillingsbruder des gregorianischen Chorals klingt. Es handelt sich dabei um einstimmige Psalmvertonungen, die entweder von einer Solostimme allein oder von einem kompletten Mönchschor gesungen werden und nur in Ausnahmefällen von einem Bordun im Baß begleitet werden. Von der Blütezeit des christlichen Hymnus in Armenien im 5. Jahrhundert bis zum Ende des Mittelalters sind in schriftlicher Form über 1.000 Hymnen überliefert, von denen eine kleine Auswahl auf einer Platte des französischen Ethno-Spezialisten-Labels Ocora zu hören ist (Chants Liturgiques du Moyen Age et Musique Instrumentale).

An diese starke Traditionslinie des klösterlichen Mönchsgesangs knüpfte der armenische Komponist Komitas (1869-1935) an. Er war eine außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit von universalem Horizont, angetrieben von einer Ruhelosigkeit, die ihn durch ganz Europa führte. Selbst Priester der armenisch-apostolischen Kirche, betrieb er nebenbei intensive musikethnologische Feldforschungen, deren Ergebnisse er in Büchern zur armenischen, kurdischen und türkischen Volksmusik publizierte. Von 1896 an studierte er drei Jahre lang ästhetische Theorie in Berlin und gründete verschiedene Chöre, mit denen er seine eigenen Kompositionen aufführte, die er 1912 und 1913 in Paris auf Schallplatte aufnahm.

Von den furchtbaren Erfahrungen, die er während des türkischen Genozids am armenischen Volk im Ersten Weltkrieg machen mußte — er wurde deportiert und eingesperrt, viele seiner Künstler- und Intellektuellen-Freunde wurden ermordet —, hat er sich psychisch nie mehr erholt. Geplagt von schweren Depressionen war er von 1919 an nicht mehr in der Lage, auch nur noch eine Note zu komponieren. Auf Schallplatte liegt jetzt Komitas' Monumentalwerk The Divine Liturgy vor, eine großangelegte A-Capella-Komposition für Männerchor, die von den Mönchen der St. Gayané-Kathedrale interpretiert wird.

Während in der religiösen Vokalmusik Armeniens, wie sie uns in den liturgischen Gesängen, aber auch im Werke Komitas' begegnet, der Geist des christlichen Abendlandes vorherrscht, ist in seiner instrumentalen Volksmusik der ganze Orient präsent. Sowohl im Instrumentarium — in den Kurz- und Langhalslauten, der aufrecht gespielten dreisaitigen Fiedel, der Zither, dem Hackbrett, den Flöten, Oboen und Schalmeien, sowie den Tamburinen, die den Rhythmus vorgeben — wie auch im modalen Tonsystem, das Improvisationen ermöglicht, in denen die Musiker ihre Fertigkeiten unter Beweis stellen. Allerdings kommt es dabei darauf an, nicht nur technische Meisterschaft zu demonstrieren, sondern es geht um Stimmungen. Die Oboe etwa erzeugt auf der Armenien-Platte von Ocora mit ihrem mattschillernden, näselnden Ton eine fast psychedelische Wirkung.

Das Armenian Music Ensemble, eine Gruppe aus fünf Musikern und Musikerinnen, spielt die Musik der „Ashough“ — der Troubadoure des Morgenlands des 18. Jahrhunderts. Aruthin Sayadian, genannt Sayat Nova (was auf persisch soviel heißt wie „Jäger von Liedern“), war einer der bekanntesten von ihnen. Hofmusiker und Universalgelehrter, der nicht nur in Theologie und armenischer Literatur beschlagen war, sondern auch eine Anzahl arabischer Sprachen beherrschte. Später wurde er Priester, dann Mönch. Wer den lyrischen Gesängen und weitgespannten Melodien der Saiteninstrumente des Armenian Music Ensembles lauscht, begreift, was Sayat Nova mit dem Satz meinte, das Wichtigste für einen Poeten sei „zu wissen, wie man still sein kann“.

—Musics of the Soviet Union (Smithsonian Folkways SF40002)

—Dmitri Pokrovsky Ensemble: Gesichter Rußlands — Faces of Russia (Trikont-Records US169)

—Armenie 1 — Chants Liturgiques du Moyen Age et Musique Instrumentale (Ocora559001)

—Komitas: Divine Liturgy (New Albion Records NA033)

—Ensemble de Musique Armenienne: Sayat Nova (Ocora558608)

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