Beim Zahnarzt

Versuch einer Fallstudie, trotz Maulsperre  ■ Von Gabriele Goettle

Stundenlang — während er extrahierte, bohrte, schliff und schabte — machte der Zahnarzt mich mit seiner Meinung bekannt über dies und jenes:

z.B. Zahnhalteapparat,

Schön aufmachen bitte, den Mund! — da ist die Destruktion am weitesten fortgeschritten, der ist in den zivilisierten Gesellschaften ruiniert. Und so bleiben bitte, gut! — das liegt ganz einfach an der Fehlernährung, wann kauen wir schon mal, stimmts? Und natürlich an der Unsauberkeit, an falscher oder mangelhafter Zahnhygiene. Da kommen manchmal Patienten zu mir, die haben noch das halbe Frühstück zwischen den Zähnen und dann wundern sie sich, wenn alles verfault! Gegen kaputtes Zahnfleisch da hilft nur eins, wegschneiden davon, so viel wie möglich!

Oder die wilde Natur,

die ist auch nicht mehr, was sie mal war. Vor Jahren habe ich einen Eisbären geschossen — der war noch gar nicht so alt — und wie ich ihn untersuche, da sehe ich, zu meiner Ünberraschung, der hatte solche Kavernen im Kiefer, faustgroß, und metertiefe Zahntaschen. Das Konkrement war so hart, das hätte man mit Hammer und Meißel runterschlagen müssen. Eine schlimmere hab ich mein Leben lang nicht gesehen, und das in Alaska... Zu Hause habe ich den Schädel stehen, eingegossen in einen Acrylblock. Machen Sie mir mal ein bißchen was zum Spritzen fertig! Ich bin ja jedes Jahr meine acht bis zehn Wochen oben. Wenn ich das nicht hätte, dann wäre ich kein Mensch. Ich brauche das einfach, die Jagd, die Einsamkeit, die Lebensgefahr... Achtung! jetzt tut es für einen kurzen Moment weh... so, schon vorbei. Da sind Sie ganz auf sich gestellt, keiner ist da, der Ihnen da draußen hilft, die Natur ist nicht friedlich und freundlich, im Gegenteil, sie ist unfair. Wenn Sie z.B. so einem Bären gegenüberstehen und die Nerven verlieren, dann ist es um Sie geschehen, unwiderruflich. Einen Kollegen von mir hats so erwischt, von dem hat man Monate später nur noch die Jacke gefunden. Sie können spülen. Hierzulande ist die Jagd ja eher was Beschauliches, möcht ich mal sagen. Ich habe seit einigen Monaten eine Beteiligung bei Belitz, dort verbringe ich meine Wochenenden. Es ist nur einen Katzensprung von hier, aber die Wälder um Potsdam sind voller Wild, obwohl ja die Rote Armee da überall kräftig gewildert haben soll. Ach, das ist einfach was herrliches, nachts auf dem Hochsitz, schön warm eingepackt, ein heißes Käffchen in der Thermoskanne, darüber der Sternenhimmel und alles schläft. Da kommt Ihnen soviel vor die Flinte, da haben Sie bald keine Lust mehr draufzuhalten. Ich hab ja ein Nachtsichtgerät, damit entgeht mir nichts. Einige Kollegen können es gar nicht verstehen, daß ich so ruhig nachts dort herumsitze, denn das ist ja die Gegend, in der sich der Kittelschürzenmörder herumtreiben soll, aber, Sie entschuldigen, der ist ein reiner Frauenmörder und davon mal abgesehen, bin ich ja bewaffnet. Wenns irgendwo kracht im Gebüsch, dann sind das jedenfalls bis jetzt immer nur prächtige Sauen gewesen — jetzt noch mal kräftig spülen bitte! — überhaupt tummelt sich das Wild, als ob es mutterseelenallein wäre. Es legt in der ehemaligen DDR ganz andere Verhaltensweisen an den Tag als das in unseren Revieren. Wahrscheinlich liegt das daran, daß das Wild drüben vielerorts niemals gelernt hat, was es heißt, waidgerecht bejagt zu werden. Das geht herum und sichert nicht mal! Mund auf bitte, ganz weit! — na, aber dann, wenn der erste Hase mal daliegt, werden die anderen doch ein bißchen schreckhaft, das können Sie regelrecht beobachten. Zu viel Wild kann ja zur Plage werden. Immer, wenn zu viele konkurrieren, dann wirds ungemütlich, das ist in der Natur ebenso wie in der Zivilisation. Und deshalb waren die uns drüben richtig dankbar.

Apropos Zivilisation,

daß wir alle so eng aufeinanderhocken, das ist der Grund für alle möglichen Infekte und auch für Agressionen, die entarten. Die drüben bekommen das erst heute zu spüren, bisher hatten sie ihre Idylle hinter der Mauer. Aber wenn der technische Fortschritt Einzug hält, dann ist es schon gleich aus mit der Ruhe. Die Kriminalitätsrate schnellt in die Höhe, hab ich gelesen, und man merkt es ja auch im Straßenverkehr, der absolut mörderisch ist. Man ist seines Lebens nicht mehr sicher. Je weiter die Zivilisation sich an amerikanische Verhältnisse annnähert, um so sicherer bekommen wir eine Kriminalität wie in Manhattan. Neulich Nacht rief mich meine Tochter an — sie war drüben, bei einem Rockkonzert — und sagte: „Pappa, bitte hol mich ab, ich trau mich nicht in die S-Bahn, hier schlagen sich die Deutschen mit den Ausländern.“

Was die Gewalt betrifft,

na, da kenne ich nichts — mal fest zusammenbeißen bitte — mir dürfte keiner dumm kommen, egal, wie alt oder kräftig. Ich habe immer meinen Ballermann in der Tasche. Als Waffenscheinbesitzer können Sie den jetzt überall kaufen, kein Problem. Also, das sage ich ganz ehrlich, wenn es gar nicht anders geht, dann mache ich auch Gebrauch davon. Stellen Sie sich das mal vor, da kommt irgend so ein Minderbemittelter oder Süchtiger und will Ihr Geld, die Uhr, oder sonstwas, der bedroht Sie körperlich, dringt sozusagen in ihre Intimsphäre ein. Der nimmt doch in Kauf, daß Sie draufgehen, oder als Krüppel liegenbleiben! Da sehe ich Rot, ganz egal, ob In- oder Ausländer.

Und die Ausländer

letztenendes, bringen uns ja die ganze Gewaltkriminalität ins Land. Meiner Meinung nach müssen wir die Leute allesamt zurückschicken in ihre Heimatländer. Man muß dem ja mal einen Riegel vorschieben, daß alle Welt hier zu uns hereinströmt, sich mitversorgen läßt. Während die Heimatländer verfallen, weil die rüstigen Arbeitskräfte im Ausland sind, machen wir uns hier Sorgen, wie wir mit der Kriminalität fertig werden. Und das muß man ja einfach sehen, daß es Menschen gibt, mit vollkommen anderen Bedürfnissen und Sitten, die verstehen uns gar nicht, unsere gesellschaftlichen Spielregeln, die kennen nur das Gesetz des Dschungels: Überleben um jeden Preis! Die paar Leute, die echte politisch Verfolgte sind, denen soll man Asyl gewähren, das schreiben die Gesetze ganz klar vor, aber zu 99,9 % sind die ganzen Polen, Afrikaner, Asisaten usw. ja hierhergekommen, um anständiges Geld zu verdienen. Jetzt, wo wir mit einer Massenarbeitslosigkeit im eigenen Land zu rechnen haben — denn drüben soll jeder vierte bald arbeitslos sein — da können wir uns nicht auch noch um Fremde kümmern, und es ist doch so, daß es deshalb bereits böses Blut gibt.

Zum Thema Blut,

da fällt mir gerade ein, daß Sie sich vielleicht darüber wundern, mich ohne Handschuhe und Maske arbeiten zu sehen. Viele Kollegen machen das mit, ich nicht! Das Ganze ist hier bei uns hochgespielt worden, aus politischen Gründen, hier und in den Staaten. Aber, das wissen die meisten Leute nicht, Aids ist eine afrikanische Seuche, denn dort sterben die Massen heute, die man für uns erst in den nächsten zehn Jahren vorausgesagt hat. Ganze Landstriche sind schon ausgestorben. Davon hören Sie hier kein Wort! Bei uns bleiben die Raten niedrig. Und sehn Sie, wenn ich hier einem Patienten in den Mund fasse, dann ist das nochmal was anders, als wenn ich ihm in Kreuzberg oder im Wedding in den Mund fasse. Da habe ich keine Angst. Vor zwei Jahren kam mal eine junge Frau und sagte: „Ich sag es gleich, Doktor, ich bin HIV positiv, behandeln Sie mich trotzdem?“ und ich sag: „Ja, warum denn nicht? Sie sind für mich eine Patientin wie jede andere!“ Wir haben die Vorsichtsmaßnahmen beachtet, und damit hatte es sich. Nochmal spülen bitte!

Und Viren,

vor denen man das Grauen kriegen kann, haben wir wirklich genug. Da ist z.B. die Grippe, die haben wir schon heute nicht mehr im Griff. Das ist nur eine Frage der Zeit, bis da eine neuerliche Welle über den Erdball rast. Dagegen wird die Schwarze Pest des Mittelalters harmlos gewesen sein. Bei der letzten großen Grippewelle 1918/19 sind mehr als 20 Millionen daran gestorben. Und das Gefährliche an der Grippe sind ja nicht Erkältung, Fieber und Heiserkeit, sondern daß sie unbemerkt, zuerst jedenfalls, die Vitalität der Zellen schädigt durch Gifte. Sie schwächt die ohnehin schon unterentwickelte Widerstandskraft und schafft einen idealen Nährboden für neue Infekte.

Da hilft nur Widerstandskraft,

und nochmal Widerstandskraft. Sie glauben gar nicht — Mund auf! Und schön weit offenlassen! — wie sehr das spartanische Leben abhärtet. Dort drüben in den Wäldern, da können Sie sich fit machen gegen sämtliche Zivilisationskrankheiten. Schon beim Essen fängt das an, kein Fleisch aus der Massentierhaltung, nix, nur freilebendes Wild. Und das geht alles ganz unbürokratisch, ich gehe in den Laden und kaufe mir eine Jagdlizenz, die kostet hundert Dollar und damit kann ich Kleintiere schießen und Lachse angeln, soviel ich will. Für Großwild muß ich entsprechend zulegen. Viel mehr brauchen Sie nicht, ich hab da mein Blockhaus, alles ganz schlicht, den Landrover lease ich, und schon bin ich weg von jeder Zivilisation. Da ziehe ich dann los, in der Gegend herum, und wenn ein Elch kommt, dann mache ich peng! Da liegt er. Und was nun kommt, das ist Arbeit, die stählt. Bitte mal den Kopf ganz zurück und ruhighalten! Eine halbe Tonne Fleisch zu zerlegen, das schafft, und dann kommen da ja auch noch andere Interessenten vorbei, solche mit scharfen Zähnen, an Ruhe ist nicht zu denken. Mein letzter Elch, der hat mich vier Tage gekostet. Das Jagen und Schießen selber hat nur etwa zehn Minuten gedauert. Ich hab ihn angelockt und ihm eines in die Breitseite gegeben, aber nichts, der brüllte und machte kehrt, aus 120 Metern Entfernung hab ich ihm dann zwei Kugeln nachgeschickt, eine traf ihn genau hinters Ohr, boing! Da war er erledigt. Al

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lein der Brustkorb hatte so eine Höhe. Das ist, als wenn Sie ein Brauereipferd vor sich haben, nur, daß Sie die Beine noch ein bißchen längen müssen, so um einen halben Meter mindestens. Und davor stehn Sie nun, als kleiner Mensch, mit einem kleinen Jagdmesser in der Hand und fangen an abzuhäuten. Allein das Fell wiegt seine eineinhalb Zentner. Es geht um zwei Dinge, um das Fleisch und um die Trophäe. Also ich gehöre nicht zu den Leuten, die das Fleisch liegen lassen und nur die Trophäe nehmen und gehen — nanu, Moment mal, liegt da die Pulpa frei? Tut das weh? Und das? Na dann ist gut! — ich sag mir, lieber esse ich wochenlang davon, als daß ich es verkommen lasse. 400 bis 500 Kilo schieres Fleisch, aber vom feinsten, das zergeht Ihnen auf der Zunge, da kommt nichts mit. Zwischendurch kann ich ja immer mal Lachs essen. Ja und mein Lager war auf der anderen Seite des Flusses, da mußte ich mir erst mal eine Furt suchen, alles hintragen auf den Schultern. Jedenfalls ist das ganz eindeutig, daß ich das ganze Jahr über von diesem Aufenthalt zehre, gesundheitlich, meine ich jetzt. Bis mich mal eine Erkältung erwischt, da muß es schon dick kommen.

Und die Arbeit,

geht auch sehr gut von der Hand. Also der Bankfritze, den ich seit Jahren behandle, der sagte neulich: „Man merkt ja erst nach zwölf Jahren, was so eine Brücke von Ihnen alles aushält.“ Na, es gibt nicht wenig Kollegen, bei denen müssen die Patienten bereits nach drei vier Jahren nachbessern lassen. Bei mir gibts sowas nicht, meine Arbeit hält! Wenns um Qualität geht, da rangiere ich unter den oberen 20 Prozent meiner Branche. Sie können anrühren! — was ich eigentlich anstrebe, langfristig, das ist eine radikale Praxisverkleinerung. Ich behalte nur meinen engsten Patientenstamm und dann werde ich mich hinsetzen und Zähne basteln, das ist eigentlich meine ganze Leidenschaft, das Künstlerische, seit Jahren beneide ich meine Zahntechniker. Kürzlich hatte ich eine Privatpatientin da, sie ist Ende sechzig, und in ihrem Mund steht alles kreuz und quer herum. Sie sagte zu mir: „Doktor, in vier Wochen muß ich zu einer großen Familienfeier auf Sylt sein, bis dahin brauche ich neue Zähne. Sie sollen so sein wie meine alten. Schaffen Sie das?“ Da habe ich gesessen und gesessen, das war eine echte Aufgabe. Ich habe herumexperimentiert — So, Mund auf, tut etwas weh? Dann jetzt mal ganz fest zubeißen, damit eventuelle Luftblasen verschwinden — also, ich sag Ihnen, die Zähne waren am Ende so schön, da kamen Sie ins Träumen. Alles habe ich hineingearbeitet, kleine Rillen, Unebenheiten, Verfärbungen, wie eben ein alter Zahn aussieht. Die Frau saß da, wo Sie jetzt sitzen — mal draufbeißen, und knirschen bitte! — dort lagen ihre Zähne, und ich sagte zur ihr: „Na, die sehn doch aus wie auf dem Friedhof ausgegraben, so echt, oder nicht?“ Aber das hat ihr nicht geschmeckt, na, manch einer verträgt keinen Humor hier auf dem Stuhl. Jedenfalls, ihre Zähne haben ihr dann doch sehr gefallen, das waren absolut ihre Zähne, nur eben eine Idee gemildert. So, fühlt sich gut an? Dann können Sie jetzt spülen. Also das, was ich Ihnen gemacht habe, damit können Sie die nächsten zwanzig Jahre rohes Fleisch beißen, wenn es sein muß, und danach ist es dann ohnehin soweit, aber darüber reden wir später.

Dann also bis Weihnachten.