Zur Versöhnung gehört die Trauer der Schuldigen

400 Deutsche auf den Spuren ihrer mörderischen Väter in Minsk/ Gedenken und Hilfe zum 50. Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR/ Grundsteinlegung einer internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte mit NRW-Innenminister Schnoor  ■ Aus Minsk Walter Jakobs

„Ob es hier Vergebung geben kann für das, was Deutsche damals den Menschen hier angetan haben, ich weiß es nicht. Dennoch bitte ich um Vergebung, und wir strecken Ihnen die Hände entgegen in der Hoffnung, daß Sie sie nicht ausschlagen.“ Herbert Schnoor steht mit bleichem Gesicht, leicht nach vorn gebeugt, so als hätte er eine schwere Last geschultert, auf der blanken Mamorplatte im Wald von Chatyn. Auch wer seine ersten Worte — „Es fällt mir nicht leicht, hier in Chatyn zu sprechen“ — akustisch nicht hat verstehen können, merkt, daß der nordrhein-westfälische Innenminister an diesem Samstag aufgewühlt wie selten ins Mikrofon spricht.

Vor 50 Jahren, am 22. Juni 1941, überschritt die deutsche Armee die Grenzen der Sowjetunion. Knapp zwei Jahre später, am 22. März 1943, verwandelten SS-Truppen in einem barbarischen Gewaltakt das idyllische Dorf Chatyn in einen Ort des Grauens. Von den SS-Schergen in eine große, mit Strohballen beschwerte Scheune getrieben, wurden die Dorfbewohner, Frauen, Männer und Kinder, lebendigen Leibes verbrannt. Von den 156 Einwohnern überlebten nur der Dorfschmied Joseph Kaminsky und drei kleine Kinder. Die etwa vier Meter hohe Statue am Eingang der etwa eine knappe Autostunde von Minsk entfernt liegenden Gedenkstätte zeigt ihn seinen Sohn, der ebenfalls im Schuppen verbrannte, auf dem Arm tragend.

Elisabeth Raiser, Aktivistin vom ökumenischen Forum christlicher Frauen, zusammen mit knapp 400 Christen und Gewerkschaftern aus Deutschland nach Chatyn angereist, gehen Bilder „von Frauen, die ihre Kinder mit ihrem Rock zu schützen trachten“, durch den Kopf. Wie Frau Raiser geht es vielen aus der bunt gemischten Reisegruppe aus Deutschland, die zusammen mit ihren Partnern aus Minsk die Gedenkfeier gestaltet. Organisiert hat die Reise das evangelische „Internationale Bildungs- und Begegnungswerk“ (IBB) aus Dortmund, seit Jahren über den sowjetischen Reiseveranstalter „Sputnik“ mit Jugendlichen in Minsk in Kontakt. Judith Palm, Pfarrerin in der östlichen Revierstadt, ist mitgereist, weil ihre Gemeinde eine Partnerschaft mit der orthodoxen Kirche in Minsk aufbauen will. 50 Zivildienstleistende sind dabei, Frauen aus Bethel, die die Tage in Minsk nutzen wollen, „um zu sehen, was in diesem Land für Behinderte getan wird“, und Aktivisten von der „Informationsstelle Tschernobyl“ aus Münster, im Gepäck — wie Schnoor — Hilfsmittel und Medikamente für Kinder von Tschernobyl.

Nach der Gedenkfeier im Wald von Chatyn steht am Nachmittag die Grundsteinlegung für eine internationale Bildungs- und Begegnungsstätte in Minsk auf dem Programm. Bei dem Projekt handelt es sich um ein Gemeinschaftsunternehmen von IBB und Sputnik, das insgesamt 10 Millionen DM kosten soll, wobei beide Partner jeweils die Hälfte aufbringen wollen. Von den 5 Millionen West trägt das Land NRW 4 Millionen Mark. Der Rest wird von der evangelischen Kirche und der Krupp-Stiftung aufgebracht. „Gemeinsam die Zukunft gestalten“, lautet die Idee des Projektes, dessen Grundsteinlegung am 50. Jahrestag des Überfalls das Bekenntnis zur deutschen Schuld dokumentieren soll. Erst auf dieser Grundlage, so die zahlreichen RednerInnen aus beiden Ländern, könne die Versöhnung gelingen, das neue europäische Haus wirklich Bestand haben. In Belorußland haben die deutsche Armee und die nachrückende SS besonders gewütet. Jeder vierte Einwohner, insgesamt 2.230.000 Belorussen, fanden den Tod. Minsk wurde während des Krieges zu 90 Prozent zerstört.

Henrik Cremer, Zivildienstleistender aus Schwerte, ist froh, daß er in Minsk dabei ist. Das wichtigste für ihn: „Man erfährt eine andere Perspektive, sieht die Dinge vor Ort nicht wie bisher immer aus der Sicht des Westens.“ Für die angereisten Deutschen scheint der Blick zurück wichtiger als für viele junge Russen. Sergej Bogdan, 22jähriger Student aus Minsk, glaubt, daß die meisten seiner Altersgenossen „dem heutigen Tag eher gleichgültig“ gegenüberstehen: „Wir haben andere Sorgen.“ Das sieht Leonid Kasak, ebenfalls Student und für die Journalisten als Dolmetscher tätig, ähnlich, doch ignorieren dürfe man den Kriegsausbruch nicht. „Das war ein trauriger Tag in unserer Geschichte.“

Schnoors Auftritt in Chatyn und das gemeinsame Gedenken zwischen Deutschen und Russen sind so selbstverständlich noch nicht. Daß es keine zentrale Gedenkfeier mit politischer Prominenz aus Deutschland in der Sowjetunion an diesem Tag gibt, erklärt sich der Düsseldorfer Innenminister damit, „daß die Wunden wohl doch noch zu tief sitzen, um sich so selbstverständlich begegnen zu können wie etwa mit Frankreich“. Wunden heilen helfen können nicht nur Begegnungsstätten — auch politische Gesten. Schnoor erinnerte in Minsk an den Kniefall von Willy Brandt im einstigen jüdischen Getto in Warschau: „Wir können unsere Gefühle nicht so ausdrücken, wie dies Willy Brandt getan hat, aber Sie sollten wissen, daß wir so fühlen.“