Noch so ein schweinisches Stück

■ George Taboris „Goldberg-Variationen“ in Wien uraufgeführt

Für Gert Voss und Ignaz Kirchner geht am Wiener Akademietheater ein lang ersehnter Traum in Erfüllung. Claus Peymanns Großdarstellerduo, das sich seit Jahren durch die tragisch-ernsten Charaktere der Weltdramatik spielt, träumte schon lange davon, auch einmal in einem komischen Stück zu glänzen. Kein Geringerer als George Tabori, der Spezialist für Tragisches und Triviales, hat ihnen dafür nun die Partitur geliefert.

Was kann es für Schauspieler Schöneres geben, als die komischen Talente ausgerechnet in den Rollen eines Theaterregisseurs (Voss) und dessen Assistenten (Kirchner) auszuprobieren? In einer intensiven Improvisationsarbeit gemeinsam mit dem Autor-Regisseur das Stück fertig zu dichten? Die eigene, dem Publikum sonst immer verborgene und daher rätselhafte Welt zu thematisieren und auf die Schippe zu nehmen?

Wie immer bei Tabori geht es nicht nur um viel, es geht ums Ganze. DieGoldberg-Variationen sind eine Back-Stage-Comedy, aber zugleich auch eine geraffte Dramatisierung der Bibel, des Buches der Bücher, vom Schöpfungsakt im Garten Eden bis zur bekannten Geschichte auf Golgatha.

Mrs. Mopp, die Putzfrau, ahnt es schon zu Beginn: „Noch so ein schweinisches Stück, was?“ Ja, noch so ein schweinisches Stück: Tabori zwingt die biblische Erzählung ins Wechselspiel mit der tatsächlichen Geschichte, interpretiert das historische — in Auschwitz kulminierende — Schicksal des auserwählten Volkes als Funktion des göttlichen Auftrags, die Gebote zu befolgen.

Mr. Jay, der Regisseur, ist Gott (Jahwe), Goldberg, sein Assistent, dessen leidgeprüftes, nicht eigentlich geglücktes Ebenbild, das die ganze Last der Schöpfung auszubaden hat, während sich der Meister im Applaus und der Anbetung seiner Bewunderer sonnt. Kirchners Goldberg ist der getretene Jude, die — wahrhaft (von einer Punk-Rockerbande aus Ninive) — geprügelte Kreatur Gottes, bucklig und kurzsichtig, die sich in ihr Schicksal fügt, nur selten und hilflos aufbegehrt. „Sie sollten beim Fernsehen sein. Was vergeuden Sie Ihre Zeit am Theater? Geht etwas schief, verwünscht man Sie, geht alles gut, keine Erwähnung in den Feuilletons. Ein anonymer Sklave.“ Und: „Wissen Sie, was Er nach dem Abendmahl gesagt hat?“ — „Getrennte Rechnungen.“ Das spielt in der zweiten Halbzeit, wenn Voss als Gott der Christen auf die Bühne kommt.

Am Theater ist es wie im Leben: Der Meister entwirft das geniale Konzept, das auserwählte Volk auf der Bühne ist dazu verdammt, es zu realisieren und zwangsläufig damit zu scheitern. Das tut dem Glanz des Meisters aber keinen Abbruch. In der „Schildkrötenimprovisation“ treibt Gert Voss das Bild mit slapstickhafter Artistik auf die Spitze: Der Regisseur erfindet eine Szene, die nur im Kopf erdacht werden kann, mit den hölzernnen, menschlichen Mitteln des Theaters aber nicht zu realisieren ist. Allesfalls mit technischen. Die analoge Metapher ist aufgelegt: „Nein, ich liebe das Theater nicht“, sagt der Regisseur einige Szenen später, „ich liebe Filme.“ — „Welche Filme?“ — „Horror.“ Nur in den Gen-Labors, so Taboris apokalyptische Vision, ließen sich jene Unmenschen züchten, die dem göttlichen Gebot gerecht werden könnten.

Aber es gibt einen Ausweg: Tabori bietet uns mit seiner Kunst augenzwinkernd ein mögliches Gegenmodell zum göttlich-biblischen (Regietheater-)Konzept an, eine Utopie vom glücklichen (statt vom „guten“) Leben, das die Idee „Gottes“ nicht ver-, sich ihrer aber auch nicht blindlings unterwirft. Die Aufführung zeigt — an der Genese der Produktion wie auch im Inhalt — etwas von der anderen Realität der schöpferischen Arbeit: Daß die Menschen- Schauspieler nicht bloß Erfüllungsgehilfen ihres Regiegottes sind. Die Darsteller des Abraham, des Isaak und der Sarah (Günther Einbrodt, Hans Dieter Knebel und Urs Hefti) bieten eine, dem biblischen Text konterkarierende Improvisation an.

Taboris Theater ist — Mensch sei Dank — nicht perfekt. Das macht sein theatralisches Gegenmodell sympathisch. Der große intellektuelle, szenische Entwurf weist Lücken, Halbheiten, Unausgegorenes auf. Es läßt Platz, ja es fordert dazu heraus, weiter daran zu arbeiten. Höpfner, Kirchner, Voss und Compagnie machen sich mit sichtbarer Freude daran.

Daß der von den Darstellern im Stück improvisierte, umständliche Trick, die Ermordung Abels auf der Bühne „echt“ erscheinen zu lassen, auf der Probe scheitert, Abel tatsächlich von der Keule getroffen zusammenbricht, ist bloß eine der blutigen Schnittstellen zwischen Theater und Wirklichkeit, aber keine Widerlegung des Gegenmodells. Mr.Jay passiert gegen Ende ein ähnlichesMißgeschick. Er vergißt bei der Demonstration des Stichs in Jesus (alias Goldbergs) Leber den Klappmechanismus der Lanze zu betätigen. Gottvater selbst ersticht seinen Sohn. Das Drama von Golgotha: Eine Theaterpanne. Wolfgang Reiter

George Tabori: Goldberg-Variationen . Regie: George Tabori. Bühne: Karl-Ernst Hermann. Mit Gert Voss, Ignaz Kirchner. Burgtheater Wien. Erst wieder im Juli.