Prätentiöser Quatsch

■ Lars von Triers EG-Trailer „Europa“

Nachts, wenn man zu spät heimkommt und dann auch noch den Fehler macht, bei RTL oder Sat 1 nach einem Film zu suchen, trifft man gelegentlich den Führer. Mitten im brasilianischen Urwald hat er sich mit wenigen Getreuen in einer trutzigen Burg verschanzt und erwartet das Vierte Reich. Oder er ließ sich 1945 einfrieren und nach Paraguay verbringen, wo er, in einer Mischung aus Lenin- Mausoleum und Gewächshaus, auf den Tag seiner Wiederkehr, auf den Tag der Entropie wartet.

Adolf & das Dritte Reich bieten, scheint's, eine nicht umzubringende Dämonie, mit der Produzenten noch immer gern ihre C-Filme ausstatten. Wenig ist dagegen zu sagen, weil niemand das ernst nehmen wird. Anders sieht es aus, wenn dieser Spaß am geschmacklosen Scherz als bohrender Ernst den A-Film erreicht.

Der dänische Werbefilmer Lars von Trier hat entdeckt, daß sich auch nach dem Krieg noch, im Winter 1945/46, kräftig im dämonischen Dunkel munkeln läßt. Liebe in Ruinen oder Deutschland im Jahre Null wäre ihm zu wenig; es muß schon eine wüste Geschichte um Werwölfe und verstockte Nazis sein, die im befreiten Deutschland weiter ihr Unwesen treiben.

Der Amerikaner Leopold Kessler (Jean-Marc Barr) geht freiwillig in dieses zerstörte Deutschland, um, ausgerechnet, Schlafwagenschaffner für die 1. Klasse im offenbar unverwüstlichen deutschen Eisenbahnwesen zu werden. Auch wenn in der Kälte damals eher die Sitzbänke verfeuert wurden, muß es in Europa schon die 1. Klasse samt Betten- und Getränkeservice sein, denn sonst lernte Kessler nicht die mysteriöse Katharina Hartmann (Barbara Sukowa) kennen, die wiederum, welch weiterer wundersamer Zufall, Tochter des Eigentümers von Zentropa — wohl die Gesamteisenbahn — ist.

Das Staunen findet kein Ende. Leopold verliebt sich in Katharina, wird öfter in ihr Vaterhaus eingeladen (ein Wunder früher Technologie: schon 1945 erreicht ihn im Zug ein Anruf); erlebt wie sich der Nazi- Kollaborateur, der ihr Vater war, im Bade die Pulsadern aufschneidet; das heißt er erlebt es gar nicht mal, weil er derweil damit beschäftigt ist, der Tochter im Stockwerk darüber zu willen zu sein; die sich eine zimmergroße Modelleisenbahn als Lotterbett ausgesucht hat usw. usf.

Der arme Jean-Marc Barr, der Kessler spielt, weiß offenbar nicht so recht, wie er in diesen Film geraten ist; offensichtlich leidet er noch immer unter dem Tiefenrausch aus The Big Blue. In diesem Wunderwerk moderner Filmkunst wird Kessler eingespannt, um dem Eisenbahnunternehmer ein ordentliches Begräbnis zu verschaffen. Einmal hastet er, verfolgt von Beamten, die bei ihm die Schlafwagenschaffnerprüfung abnehmen wollen, durch einen Waggon, der dem unbefangenen Beobachter ziemlich bekannt vorkommt: Da liegen nämlich dreistöckig übereinander ausgemergelte, kahlgeschorene Männer in Sträflingskleidung und starren ihn stumm und vorwurfsvoll an.

Was sollten sie auch sagen: Lars von Trier hat hier das berühmte Photo einer KZ-Befreiung nachgestellt, erreicht damit aber nichts weiter, als ein Menschheitsverbrechen zum Kulissenklischee zu verharmlosen.

O ja, Lars von Trier kennt Dreyer, Hitchcock und Lang; er kann Bergman schon fast so gut imitieren wie der mittlere Coppola. In einer Szene versucht er sogar (schlecht genug), eine Szene aus dem Film Falsche Bewegung des viel besseren Eisenbahn- Regisseurs Wim Wenders zu imitieren. Der ganze Film prunkt mit einer Bedeutung, die er nicht hat. Er verzichtet auf keinen gesuchten Effekt (Christmette in einer Kirche ohne Dach, so daß die dicken Flocken schön malerisch ins Kirchenschiff schweben können), dafür aber auf jeden Anschein historischer Wahrheit und erreicht damit nur etwas, was das Dritte Reich, was die Nazis bestimmt nicht hatten, eine operettenhafte Dämlichkeit.

Der große kunstgewerbliche Aufwand reicht gerade aus fürs Filmkunststudio. Erwartungsgemäß tirilieren die sonst auf Schonkost gesetzten Freunde des künstlerischen Films bei diesem monströsen Kitsch. Allerdings dürfte sich für „Europa“ abends kein einziger Werwolf das Fell über die Ohren ziehen. Willi Winkler

Lars von Trier: Europa , mit Barbara Sukowa, Jean-Marc Barr, Eddie Constantine, Udo Kier u.a., Deutschland / Dänemark / Frankreich / Schweden 1991, schwarzweiß mit Farbflecken, 100 Min.