Ästhetisches Flügelschlagen

■ „Die Vögel“ von Walter Braunfels im Bremer Opernhaus

Bruno Walter brachte 1920 ein „lyrisch- phantastisches Spiel in zwei Aufzügen nach Aristophanes“ im Münchner Nationaltheater zur Uraufführung: Die Oper Die Vögel, zu der Walter Braunfels (1882-1954) Text und Musik verfaßt hatte, erwies sich in den zwanziger Jahren als erfolgreich, denn das Stück traf als „ein Werk der Sehnsucht nach dem reinen Reiche der Phantasie, der Kunst, der Poesie“ die Erwartungen eines von Weltkrieg, revolutionären Wirren und Wirtschaftskrise gebeutelten mittelständischen Publikums.

Die Musik trat aus den Bahnen der Wagner-Nachfolge, der schwelgerischen Schönheit und üppigen Orchestrierung nicht heraus, erscheint gegenüber Schreker (und gar gegenüber allen Schreibweisen der heftigeren Moderne) als dezidiert konservativ.

Ihr Urheber brachte es zu einem Direktorenposten an der Kölner Musikhochschule. Den aber wurde er 1933 wieder los, weil er angeblich nicht die richtige Großmutter gehabt hatte. Wie so vieles andere wurden auch weitere Aufführungen der Vögel untersagt, auch alle anderen Braunfels-Werke durften nicht mehr gespielt werden. Der Komponist überlebte die Nazizeit in bescheidensten Verhältnissen am Bodensee. Nach 1945 kehrte Braunfels in sein Kölner Amt zurück — ein seltener Vorgang, denn die meisten von den Deutschen im Zug ihrer nationalen Erhebung Vertriebenen wurden nicht zurückgebeten. Die Braunfels- Werke erhielten neue Chancen. Freilich fanden sie nach dem Zweiten Weltkrieg keine bemerkenswerte Resonanz mehr: ihre Zeit war wohl endgültig vorüber.

Nach zwanzigjähriger Pause wurden Die Vögel nun wieder aufgescheucht — das Bremer Theater wagte den Versuch. Die von der Bühne vermittelte Sehnsucht nach reiner Phantasie wurde vom Premierenpublikum ebenso demonstrativ mit Beifall bedacht wie die von Ira Levin geleitete Musik und das strebend bemühte Sängerensemble. Ein Werk wie dieses liegt durchaus in einem der Trends unserer Zeit — eben weil es nicht mehr (und nicht weniger) sein wollte und will als ein „luftiges Phantasiespiel“. Braunfels verlangte von seinen Zuhörern lediglich, sie sollten sich bewußt bleiben, „daß alles hier ein Spiel, ein Gleichnis ist“. Niemand, der auch nur einen kurzen Blick in das Programmheft geworfen hatte, erwartete in Bremen also eine ornithologische Abhandlung oder eine unterhaltsame Geschichte mit irgendwelchen lustigen Vögeln. Die Reise ging nach Allegorien und Symbolien.

Fing auch vielversprechend an: Der Orchestergraben war umstellt von Gestalten mit Schweißbrillen (den Choristen, wie sich später herausstellte), umringt von jener Art Lebewesen, deren tote Augen nach der Auffassung des Regisseurs Klaus Kirschner „das Himmelslicht beleidigt haben“. Hoch über diesen normierten Normalwesen, zu deren Gruppe auch die auf der Bühne agierenden Herren Hoffegut und Ratefreund gehören, sitzt die Nachtigall im goldenen Bilderrahmen: Jeanine Thames thront als eine Königin der Nacht im dunkelblauen und gülden glitzernden Pelzkleid vor der Oberkante der Bühnenöffnung. Von dort oben herab läßt sie ihren hohen Sopran auch über den anderen Stimmen auf der Bühne strahlen.

Die vielen Darsteller der Vögel tragen Masken, was ja ganz naheliegend ist. Die Schnabel-Fabel-Wesen stehen freilich so erkennbar für Menschen, deren Orientierungslosigkeit und Manipulierbarkeit, daß man sich fragt, was die Pappnasen sollen: Ratefreund empfiehlt den Vogelmenschen, sich eine Stadt zu bauen — ein Super-Babylon, dessen Mauern bis in den Himmel reichen (und den ewigen Göttern den Luftraum abschneiden). Das irrwitzige (und die Moderne kritisieren wollende) Unterfangen findet auf der Ebene des von Maren Christensen entworfenen Bühnenbildes keine Entsprechung. Die hohe Mauer mit schmaler Türöffnung im Hintergrund der Bühne steht von Anfang bis Ende. Die Vogelmenschen mit ihren Mohrenköpfen arbeiten lange Zeit mit langen Stäben (als sollte Robert Wilson parodiert werden). Freilich ist alles in der Inszenierung von Klaus Kirschner ernst und bedeutungsschwer gemeint: Er will, hart vorbei an der Vorlage des Aristophanes, recht quer auch zur naivischen Fabel von Braunfels, eine andere Geschichte erzählen: die von der psychischen Verformung der beiden phantasiearmen Wanderer aus dem Reich Realien. Wahrscheinlich hat er Michael Ende gelesen.

Während die Musik in spätentwickelter Melodienseligkeit und hochromantischer Harmonienpracht weiterwallt, entsteigt eine fast nackte Tänzerin dem herbeischwebenden Ei. Und wenn ein Prometheus schließlich von seiner frevlerischen Erhebung berichtet, von seinem Hang zu „Empörung, Aufruhr, Übermaß, Gewalt“, dann wird — als wäre es der mythische Felsen — die Tänzerin an dem gebogenen Baum emporgezogen, der all die Zeit im Vordergrund der Bühne auf seine Benutzung gewartet hat. Das Stück verkündet, von der Inszenierung diskret kaschiert, seine dezidiert antimoderne, reaktionäre Botschaft. Die Vögel flattern oft wie aufgescheucht über die Bühne, tanzen mehr oder weniger gekonnt Ringelreihen. Und schließlich, dank der Sprinkleranlage, regnet es ausgiebig auf der Bremer Bühne. Die Vögel kriechen wieder unter die Stühle, von wo sie die Inszenierung hatte aufbrechen lassen. Die Reaktivierung dieses Stücks auf diese Weise hinterläßt zwiespältige Gefühle. Frieder Reininghaus