Doch alles beim alten?

Wie sieht es zu Beginn der 90er Jahre, nach der 89er „Revolution“, in den Köpfen der ostdeutschen Journalisten aus? Ohne Zweifel beschränkt sich die Ostzunft mehr aufs Reagieren auf neue Gegebenheiten. Das Selbstvertrauen ist nach wie vor blockiert, Kommunikationsstörungen wieder an der Tagesordnung/ 3. und vorläufig letzter Teil  ■ STEFAN PANNEN

BERLIN

Ich habe vom Herbst 1990 bis heute rund zwei Dutzend Interviews mit meinen ostdeutschen Kollegen geführt. Was nicht immer ganz einfach war. Denn die befragten Journalisten mieden allzu gerne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Häufig ließen sie die vereinbarten Termine platzen. Bei Rewatex und der 'Tribüne‘ empfingen mich die Kollegen mit vorbereiteten Pressemappen — wohl in der trügerischen Hoffnung, damit alle Neugier befriedigt zu haben.

Der Außenpolitiker der 'Neuen Berliner Illustrierten‘ beantwortete persönliche Fragen stets allgemein und unverbindlich, Nachfragen verstand er falsch und wollte es wohl auch. Bettina Klein, Volontärin des RIAS, die im Frühsommer 1989 übergesiedelt war, gestand offen ein, nicht mehr über das Gestern reden zu wollen, weil sie dessen inzwischen überdrüssig sei. Gudrun Mehlan, die bürgerbewegte Leiterin des Nordmagazins beim Landessender Mecklenburg-Vorpommern, mochte nicht vorschnell antworten: „Wissen Sie, dazu müßte ich über mein halbes Leben reflektieren, das ist nicht in zwei Sätzen gesagt. Und ich finde, wer das in zwei Sätzen so von sich gibt (...), das ist zu einfach, das ist alles zu einfach, weil das ein ganzes Stück Leben ist.“ Und weil das ein ganzes Stück Leben ist, fühlt sich so mancher „wie ein Kosmonaut im luftleeren Raum“, so bezeichnet es zumindest der ehemalige Chefredakteur der FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘, Hans-Dieter Schütt. Wenn er heute ins Grübeln gerät, fallen ihm seine Artikel von gestern ein: „Das ist nun mal nicht zu tilgen, das gibt es schwarz auf weiß.“ Und dann versucht er zu erklären, wie zum Beispiel sein Verriß des georgischen Films Die Reue (Obuladse) in der 'Jungen Welt‘ zustande kam, wer im Zentralkomitee was gesagt habe. Wobei er immer noch überzeugt ist, daß die 'Junge Welt‘ deshalb eine gewisse Narrenfreiheit gehabt habe, weil Egon Krenz und Joachim Herrmann sich nie so recht einig gewesen seien, wer nun eigentlich für das Blatt zuständig war. Die Frage der Zuständigkeit spielt für die meisten ostdeutschen Journalisten keine Rolle. Viele begnügen sich damit, irgendwie mitverantwortlich gewesen zu sein, basta.

Meditationen zum Ausstieg nur privat

Dennoch lassen sich den Gesprächen vier Gründe entnehmen, warum sie nicht gegen Gängelung und Schönfärberei protestiert haben. Jürgen Zweigert, Wirtschaftsredakteur beim ehemaligen Gewerkschaftsblatt 'Tribüne‘, meint, es habe einfach die Zeit gefehlt, um sich ernsthaft mit der Lage im Lande und der eigenen Situation zu befassen. „Der Job fordert einen täglich, da blieb keine Zeit zum Nachdenken. Das wurde dann einfach als notwendiges Übel betrachtet und fertig. Nur im privaten Kreis hat man dann über einen Ausstieg meditiert. Aber man hatte keine Wahl.“ Daß man keine Wahl hatte, wird zumeist ökonomisch begründet. Man habe Familie gehabt, die ernährt sein wollte, habe nur Journalismus gelernt, und obendrein habe es an anderen attraktiven Angeboten gefehlt.

„Was hätte ich denn machen sollen?“ Diese Frage habe ich mehr als einmal gehört. Doch es war nicht die mangelnde Alternative allein, die ostdeutsche Journalisten bei der Stange hielt. Denn wer Redakteur war und es geschickt anstellte, konnte durchaus zu den Spitzenverdienern im Staate DDR gehören.

Peter Ludes hat in seinem Buch über die Aktuelle Kamera (DDR- Fernsehen-intern, Berlin 1990) beschrieben, was freie Mitarbeiter dort bei guter Führung zusätzlich verdienen konnten: „...für besonders gute Berichterstattung über Parteitage und politische Ereignisse regelmäßig Prämien in Höhe von einem halben Monatslohn bis zu zwei Monatslöhnen eines Mitarbeiters unterhalb der Leitungsebene“. Angelika Unterlauf, jahrelang als Moderatorin der AK, die Stimme der DDR, bestätigt, daß es „schon mal 400 Mark mehr“ sein konnten, wenn sich die Parteioberen ins rechte Licht gerückt sahen.

Derlei versüßte den parteilichen Journalismus, der jedoch ohnehin in vielen Redaktionen gepflegt worden sei. Denn der vierte Grund für die kritiklose Unterordnung der Journalisten war die prinzipielle Übereinstimmung mit den Zielen des Sozialismus und den Mitteln, die die Einheitspartei anwandte, um diese durchzusetzen. Gegenwärtig befinden sich ostdeutsche Journalisten in einer paradoxen Situation. Vielfach halten sie an ihrer sozialistischen Überzeugung in irgendeiner Form fest, geraten dabei in Konflikt mit den neuen Erfordernissen. Gleichzeitig erlauben es ihnen gerade ihre eingefahrenen Verhaltensweisen oftmals, so weiterzumachen wie bisher.

Neue Typen in den neuen Medien?

Es ist frappierend zu sehen, daß sich die Journalistentypen aus dem DDR- Roman der achtziger Jahre in der Realität der Neunziger wiederfinden. Zwar sind die ideologischen Machthaber von der Bühne abgetreten. Doch auch wenn die Macht dahin ist, bleiben manche ostdeutsche Journalisten der Ideologie treu, bezeichnen sich „nach wie vor als Sozialist“, haben „die Hoffnung auf die Reformierbarkeit des Sozialismus“ nicht aufgegeben und halten an einer „sozialistischen Utopie“ fest. Davon ausgehend kritisieren sie den Journalismus westdeutscher Machart, der nun über die ehemalige DDR schwappt. Ein ums andere Mal wird über 'Super!‘ und 'Berliner Kurier‘ geschimpft, die Mühlfenzelung von Hörfunk und Fernsehen beklagt.

[Und nur zu Recht und nicht zu knapp, d. R.] Auch der DFF in seiner heutigen Form will einigen kapitalismuskritischen Ideologen nicht gefallen. „Enthüllungsjournalismus“ sei das, der vielfach über das Ziel hinausschieße. Der zweite Journalistentyp ist ein alter Bekannter — was darauf schließen läßt, daß er nicht allein in der DDR existierte: der Karrierist.

Keiner mag ihn und keiner will es sein, jeder schimpft über die „Wendehälse“, die „ihre Überzeugung von heute auf morgen über Bord geworfen“ hätten. Und doch ist er kein unbekanntes Wesen. Da ist der Hörfunkmoderator, Typ „Surflehrer“, gutgelaunt, gebräunt und smart, der schon früher „nie Probleme mit denen da oben hatte“ und nun am liebsten für den Privatfunk arbeiten würde, weil es sich dort unbeschwert plaudern — und leichter verdienen — läßt. Oder die alleinstehende Fernsehreporterin mit Vier-Raum-Wohnung, die sich auf das Genaueste nach den Westtarifen erkundigt, um sich alsbald über ihr — für ostdeutsche Verhältnisse nicht gerade spärliches — Gehalt zu mokieren. Sie ist es auch, die bereits im Herbst 1989 sehr genau wußte, was ihre Dienste für eine österreichische Talksendung wert waren, entsprechende Forderungen stellte und erfüllt bekam.

Nun ist es gewiß legitim, mehr als den taz-Einheitslohn verdienen zu wollen. Aber die Schnelligkeit, mit der sich so mancher auf den freien Westen eingestellt hat, ist gelegentlich doch ein wenig atemberaubend. Zumal es unter Ostjournalisten ein beliebtes Diktum ist, daß alles „nun viel zu schnell gehe“, ein Umstand, der bei denjenigen, die nicht ganz so fix sind in der Rolle vorwärts mit Sprung auf den Geldsack, massive Existenzangst hervorruft, die vor allem bei den Kollegen von Hörfunk und Fernsehen durchaus berechtigt ist. Die Folge: Man versucht es wieder mit innerer Emigration, bemüht sich um zaghafte Anpassung.

Der altgediente Illustriertenmann, der früher die Außenpolitik leitete und nun die Agenturmeldungen für den westdeutschen Chefredakteur aufzubereiten hat, wird nicht müde zu versichern, wie „hochinteressant, wirklich hochinteressant“ seine neue Tätigkeit sei.

Selbst der ehemalige Chefredakteur einer Tageszeitung kommentiert ein ums andere Mal die Einlassungen des ihn befragenden Westkollegen mit einem allzu schnellen „ja, ja, natürlich“. Dabei ist er von all meinen Gesprächspartnern sicher derjenige, der seine Rolle im Journalismus der DDR am weitesten reflektiert und sich darob eine Ruhepause verordnet hat. Damit ist er eine Ausnahme, ebenso wie der Funktionär des Journalistenverbandes, der sich heute als Grabredner verdingt und dabei in den Familien derer, die sich aus Angst vor der Abwicklung das Leben genommen haben, sozialtherapeutisch tätig ist. Beide sind Aussteiger aus dem Journalismus. Während sie den Beruf verlassen haben, weil sie ihm früher allzusehr verhaftet waren, gibt es daneben gerade unter jungen Journalisten skrupulöse Außenseiter. Vielfach kommen sie aus der Bürgerbewegung, haben gegen das alte System gekämpft und tun sich nun schwer damit, daß das Neue so ganz anders ist, als sie es sich gedacht haben.

Westdeutsche Kollegen „haben keine Botschaft“

So beklagt die junge RIAS-Volontärin, daß ihre westdeutschen Kollegen keine Botschaft hätten, ihnen sei es gleich, worüber sie berichteten, Hauptsache, es sei eine „Story“ drin. Sie selbst hält daran fest, daß der Journalist seine eigene Meinung präsentieren müsse, und das nicht nur im Kommentar. Ideologen, Karrieristen, zaghafte Anpasser und potentielle Aussteiger bevölkern die Redaktionsstuben im Osten Deutschlands. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie sich noch nicht haben lösen können von ihren vertrauten Verhaltensmustern. Weiterhin reagieren sie vor allem auf die Herausforderungen, die von außen kommen. Dadurch wird überdeckt, daß für sie ein dramatischer Vorzeichenwechsel stattgefunden hat. In der DDR war der Journalismus von zwei Polen geprägt: Ideologie und Fachkompetenz (Verena Blaum), wobei die Ideologie stets das Dominierende war.

Im Herbst 1989, kaum daß die Herrschaft der SED und damit ihr ideologischer Führungsanspruch weggebrochen waren, traute man seinen Augen kaum. Plötzlich waren die Zeitungen lesbar, die Bilder bunt, die Nachrichten spannend. Von einem Tag auf den anderen hatten die Journalisten ihr Handwerk wiederentdeckt. In ihrem Selbstverständnis nahm der Glaube an das eigene professionelle Vermögen daraufhin die Stelle ein, die zuvor die Ideologie innegehabt hatte. Aus dem Parteifunktionär wurde der Profi. Erst wer bedenkt, wie wichtig der Glaube an die eigene Professionalität für das berufliche Selbstbewußtsein der ostdeutschen Kollegen ist, kann ermessen, welchen Flurschaden der SFB-Intendant Günther von Lojewski anrichtet, wenn er Ost- und Westjournalisten als „unvergleichbare Größen“ sieht.

Erst wer registriert, daß viele ostdeutsche Journalisten sich auf das Reagieren beschränken und damit in alte Verhaltensmuster zurückfallen, erkennt das volle Ausmaß der Ignoranz, die der Chefabwickler des ostdeutschen Rundfunks, Rudolf Mühlfenzl, und seine Leute an den Tag legen. Denn ihr Regime der Dienstanweisungen, Abmahnungen und fristlosen Kündigungen mag manches befördern und vieles verhindern, eines jedoch bringt es gewiß nicht hervor: den mündigen Journalisten.

Über Ideologie wird besser nicht debattiert

Und ein Drittes, die Ideologie betreffendes. Richtig ist, daß das Leitbild des parteilichen Journalisten ausgedient hat. Richtig ist aber auch, daß sozialistische Überzeugungen für viele ostdeutsche Journalisten nicht passé sind. Doch über Weltanschauung wird in der Zusammenarbeit zwischen Ossis und Wessis nicht geredet, schließlich ist ein Blatt zu machen, ein Beitrag zu erstellen, ein Titel zu entwerfen. Da ist kein Platz für lange Diskussionen, außerdem meidet man das Thema lieber, man weiß ja nie.

Stillschweigend setzen die Wessis voraus, daß nun, da sich die Überlegenheit des Westens gezeigt habe, die Sache ohnehin erledigt sei und sich darum die Auseinandersetzung mit Kollegen erübrige. Ein Trugschluß: Denn es war immer töricht, die Dinge stillschweigend unter den Teppich zu kehren. Wichtiger als Abwicklung und Proporzdenken ist deshalb ein Gespräch zwischen Ost- und Westjournalisten, das über den Tag hinausgeht.

Gemeinsam sollten sie Geschichte aufarbeiten, um heute zu wissen, was sie morgen erwartet. Das sollte der eine oder andere bei der unappetitlichen Diskussion um die Zukunft des Funkhauses Nalepastraße und der Studios in Adlershof bedenken. Denn die Kommunikation ist schon wieder gestört.