»Für uns alle ein nicht so einfacher Tag«

■ Mit der gestrigen Zeugnisvergabe in Ost-Berlin hat das DDR-Schulsystem abgedankt/ LehrerInnen und SchülerInnen gehen mit Skepsis ins neue Schuljahr/ Zeugnisse entscheiden jetzt über künftigen Bildungsweg der Kinder

Prenzlauer Berg. »Anja ist Mitglied des Gruppenrates und hat auf Grund ihrer aktiven Mitarbeit einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung und Festigung des Klassenkollektivs. Sie sollte jedoch ihre Hemmungen überwinden und ihre positive Meinung im Klassenkollektiv stärker und optimistischer vertreten.« Man hatte anscheinend Hoffnungen in jenes 13jährige Mädchen gesetzt, daß es eine vorbildliche Entwicklung nehmen werde.

Kein Schüler wird heute mehr nach seiner gesellschaftlichen Pflichterfüllung oder seinem Klassenstandpunkt beurteilt. Bei der gestrigen Zeugnisvergabe in Ost-Berlin — die Westberliner Kids müssen noch drei Tage warten — gab es nur Lob und Tadel über mehr oder weniger Lerneifer, über gutes und schlechtes Auffassungsvermögen. Auch in der 7b an der 16. Oberschule in der Dimitroff-Straße ermahnte man gestern die kleine Schwatzliese und erinnerte man den ewigen Träumer an den Ernst des Lebens.

Die Lehrerin Cornelia Haack war dabei sichtlich bewegt. Noch nie sei ihr eine Zeugnisausgabe so schwer gefallen. Denn mit dem gestrigen Tag starb das Schulsystem sozialistischer Prägung aus. Auch den 13jährigen, glaubte Cornelia Haack in ihrer Ansprache, würde er nicht leichtfallen, weil sie nicht wüßten, was auf sie zukomme. »Für uns alle ein nicht so einfacher Tag.« Und dann zählte sie auf: die Erstbeste, den Zweitbesten und so weiter bis zum Klassenletzten. Sitzenbleiber gibt es nicht, und alle »können stolz auf ihre Leistungen sein«. So befreit, schieben die Schüler ihre Zeugnisse in die braune Plastikmappe mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Ein Relikt, das man gern beseitigt hätte, wie die Schüler erzählen: »Und das nur wegen des Emblems.«

Die Schüler nehmen diesen historischen Tag wesentlich gelassener hin. Einige sind traurig, weil sie jetzt auseinandergehen müssen. Zehn von den 18 Mädchen und Jungen werden an der Schule bleiben, die am 22. August als eine der 54 Gesamtschulen startet. Vier gehen aufs Gymnasium und drei an die Realschule. Schon bei der Zeugnisverteilung beginnt die Differenzierung. Denn wenn in diesem Jahr das Ziel nicht erreicht wurde, spüren die Schüler es stärker als sonst. Lebensentwürfe könnten kaputtgehen. Und das obwohl, wie die Schüler erzählen, im letzten Schuljahr »wegen der Umstellung alles ziemlich oberflächlich zuging«. Zum Schluß hätten sie nur noch Videos geguckt, weil sich der Lehrstoff der Siebenten Ost oft mit dem der Achten West doppelte.

Die nächsten drei Tage bleiben für den Umzug der Grundschulklassen. Auch Schulleiter Franz Hörbe geht mit. Vom Schulamt abberufen, wird er als Stellvertreter in die Grundschule geschickt. Zig Vertrauensabstimmungen habe er überstanden, aber was soll er sich aufregen? Er ist schon froh, daß es keinen Rausschmiß der Vorruheständler gegeben hat, denn dann wäre er dabei gewesen. Es ist sein 41. Jahr im Schuldienst, und »es war nicht alles schlecht, was wir gemacht haben«, fügt er schnell hinzu. Trotzdem fühle er sich befreit von solch lästigen Dingen wie Berufsorientierung, vormilitärische Ausbildung und Stundenausfallstatistiken. Ins nächste Jahr geht Hörbe mit einer gewissen Zwiespältigkeit: »Bereit mitzumachen, aber nicht, wenn alles bisherige als dumm und falsch abgetan wird.« Anja Baum