Vom Boom der „Unabhängigkeit“

Nicht nur in Moskau, sondern auch im Innern der UdSSR haben unabhängige Medien Hochkonjunktur  ■ Von Joachim Weidemann

Der Radiomacher Andrej Borisowitsch Bogdanow hat etwas von einem liebenswerten Dickschädel: ein Mitfünfziger mit kurzem, weißgrauem Haar, Stoppelbart und einem Baß, dem man kaum zu widersprechen wagt. Der fürcht' nicht Tod, nicht Teufel, geschweige denn das kommunistische Parteikomitee von Wolgograd. Dort nämlich hat Bogdanow mit anderen KollegInnen ein erstes unabhängiges Radio aufgezogen: „Wedo“, das altslawische Wort für Wissen.

Andrej Borisowitsch baut auf die Erfahrungen, die er als Radioredakteur in den USA sammeln konnte. Er hätte drüben bleiben können, kam aber zurück und gründete das Radio. Das Startkapital dazu stammte zum Großteil aus dem Verkauf einer eigens zu diesem Zweck herausgegebenen Kinderbibel. Inzwischen sendet Radio „Wedo“ drei Stunden am Tag Musik, News und Features. Auf Kurzwelle. Der Sender finanziert sich über Werbung — und über die Vermietung von Studio und Sendezeit, etwa an Radio „Swoboda“. Darüberhinaus heuern die „Wedo“- Leute staatliches Fernseh-Equipment und drehen eigene Filme, die derzeit jedoch nur als Videos vertrieben werden. Bogdanow sucht nun amerikanische und deutsche RundfunkmacherInnen, die ihn beim weiteren Ausbau des Senders beraten.

Der Staat sieht zu. „Wir werden immer wieder gefragt, ob es bei uns Pressefreiheit gibt“, sagt Bogdanow. „Ja, die gibt es, so viel man sich nur vorstellen kann. Aber das allein genügt nicht; man muß die Freiheit auch zu nutzen wissen.“ Freiheit lasse sich ja von oben verordnen, sagt der „Wedo“-Gründer, „aber die Verantwortlichkeit, damit umzugehen — die muß man erst anerziehen. Und darin liegt das Hauptproblem“.

Auch in Charkow in der Ukraine hat sich inzwischen eine unabhängige Telekompanie gegründet: „Nika TV“. Wie „Wedo“ hat sie sich von den staatlichen Arbeitsstrukturen losgesagt. „Nika“-Macher Wladimir Rewenko erinnert sich mit Ironie an die Zeiten des Staatsfernsehens: „Wir erfuhren genau, was im Westen vor sich ging. Nur erfuhren wir es durch die Brille des Korrespondenten von ,Gosteleradio‘ (der staatliche sowjetische Rundfunk, d. Red.). Ich begann schon, mit dem Westen mitzuleiden. Weil dort doch alles immer schlimmer wurde...“

Für die Zensur bei „Gosteleradio“, so bestätigt ein Staatsjournalist aus Smolensk, gab es zumindest in Rußland ein einfaches Instrument: Alle Sendebeiträge mußten zuvor schriftlich abgefaßt und vorgelegt werden. Dann wurde entlang der Senderhierarchie darüber befunden, ob das Stück über den Äther gehen durfte. In den Republiken gab es da schon mehr Freiheiten, wie belorussische Korrespondenten erklären. In jüngster Zeit scheinen sich an der Peripherie auch die staatlichen Medien mehr und mehr von Moskau zu lösen, um sich der eigenen Republik zuzuwenden.

Auch die staatliche Informationsagentur 'Nowosti‘ ('ian‘, vormals 'apn‘) läßt ihre externen Niederlassungen, etwa im Baltikum, derzeit an der langen Leine arbeiten. Hauptgebot jedoch: Wirtschaftlich effektiv muß es sein. Die Freiheit hat ihren Grund nicht zuletzt im wachsenden Konkurrenzkampf mit unabhängigen Medien.

In Litauen etwa, so meldete das 'ian‘-Büro in Vilnius unlängst, seien bei der Presseverwaltung „374 Zeitungen und 142 Zeitschriften“ registriert (vor der Perestroika waren es laut 'ian‘ 140 Zeitungen, 32 Zeitschriften, 100 Bulletins). Die Blätter erscheinen zumeist in Litauisch, mit einer kleineren Auflage in Russisch. Am auflagenstärksten sind dort die unabhängige Jugendzeitung 'Lietuvos Rytas‘ ('Litauer Morgen‘, 248.000 Exemplare) und die unabhänige Tageszeitung 'Respublika‘ (245.000 Exemplare).

Die unabhängigen sowjetischen Tageszeitungen haben inzwischen auch einen eigenen Verleger-Verband gegründet, dem laut 'ian‘ bereits 383 Mitglieder angehören, darunter die Zeitung 'Literaturnaja Gazeta‘ ('Literaturzeitung‘) und das Wirtschaftsblatt 'Delowoj Mir‘ ('Geschäftswelt‘). Außer Verlagen und Verlegern gehören dem Verband auch Druckkombinate und Unternehmen der Holzindustrie an. Das soll künftige Papier-Engpässe vermeiden helfen. Ein erstes Ziel des Verbands laut 'ian‘: In allen größeren sowjetischen Städten sollen nichtstaatliche Kioske entstehen, die denen der staatlichen „Sojuspetschat“ einheizen.

Das wiederum dürfte einer Zeitung zugute kommen, die derzeit noch unter großen Vertriebsproblemen leidet: die 'Nezawisimaja Gazeta‘ ('Unabhängige Zeitung‘). Das Blatt, das in Moskau in einer Auflage von 170.000 Exemplaren erscheint, wird zwar vom Moskauer Stadtrat gesponsert und ist daher nicht ganz so unabhängig, wie der Titel vorgibt. Doch der Ruf der 'Nezawisimaja‘ in der Branche ist sehr gut: demokratisch orientiert, nicht korrupt, kritisch in der Analyse, fundiert in der Prognose. Ziel der Zeitung: ein weltweites Netz von Kooperationen, ähnlich der 'World Media‘, in der die taz vertreten ist. Kontakte zur britischen Zeitung 'The Independent‘ sind bereits geknüpft. Und auch in den USA versucht die 'Nezawisimaja‘ Fuß zu fassen: mit einer englischen Ausgabe in einer Auflage von zuletzt 30.000.