Sozialistisches Schöner-Wohnen-Gefühl

■ „Stalinallee“ — SFB-Dokumentation über ein umstrittendes Stück gebauter Geschichte in Berlin, So., 21 Uhr, N 3

Ist sie nun ein Beispiel für gelungene Großstadtarchitektur, wie der postmoderne Baumeister Aldo Rossi unlängst schwärmte, oder ist sie ein verdammungswürdiges Objekt stalinistischen Größenwahns? Um diese Frage, das sei gleich vorweggeschickt, drückt sich Jan Franksens Film über die Ostberliner Stalinallee herum. Und das ist schade, denn das Objekt seiner dokumentaristischen Begierde ist so umstritten wie kaum ein anderer Baukörper in der Bundeshauptstadt. Zwar hat der Berliner Senat den „sozialistischen Boulevard“ jetzt erst einmal unter Denkmalschutz gestellt, doch die längst fällige architekturkritische Debatte über den Umgang mit den steinernen Monumente deutscher Vergangenheit findet in der Öffentlichkeit nicht statt.

Franksen beschränkt sich in seiner 45minütigen Dokumentation auf die zeitgeschichtlichen Hintergründe, die zum Bau der Stalinallee führten. Als Antwort auf die entwürdigenden Wohnverhältnissen in den Arbeiterquartieren der Kaiserzeit entwickeln fortschrittliche Architekten in den 20er Jahren den funktionalen Siedlungsbau à la Bauhaus. Den Nazis war diese schmucklose, moderne Formgebung so verhaßt wie die Bauhaus-Künstler. Viele ihrer Arbeiten galten als entartet. Statt dessen plante Speer auf dem Reißbrett eine pompöse Reichshauptstadt mit Achsen und Monumenten über jegliches menschliche Maß hinaus. Im geteilten Nachkriegsdeutschland entwickelten sich dann zwei unterschiedliche Baustile. Im Westen entstand in Anlehnung an die alte Bauhaus-Tradition die neue Sachlichkeit, im Osten wurde unter dem Einfluß des Stalinismus eine „neue Prächtigkeit“ zelebriert. Die sozialistischen Ideen klangen damals ebenso verführerisch wie illusionär. Erstmals sollte der Prunk nicht den Herrschenden, sondern dem Proletariat ein vollendetes Schöner-Wohnen-Gefühl vermitteln. Der Bau der Stalinallee wurde zum einzigartigen Propagandafeldzug der SED. Brecht widmete dem protzigen Straßenzug in Berlin-Friedrichshain flammende Verse, der Baumeister Herman Henselmann avancierte zum SED-Vorzeigearchitekten. Dann stirbt Stalin und mit ihm der Traum vom sozialistischen, klassenlosen Wohnen. Ökonomische Zwänge, eine kurze Tauwetterperiode unter Chrutschow, die folgende Formalismus- Debatte in der DDR, all das beeinflußt den Baustil der kommenden Jahre. Statt sozialistischer Pracht ist plötzlich die „Platte“ angesagt.

Die Stärke der Dokumentation liegt in der Fülle des gezeigten Archivmaterials. Eine plausible Erklärung für den offensichtlichen Sinneswandel, für die eklatanten Widersprüche, die die SED-Kader mit seichten Propagandatexten zu überbrücken suchten, liefert der Film nicht. So wirkt das SFB-Stück aus der Redaktion Zeitgeschichte seltsam entrückt, fast unbeeindruckt von der derzeitigen Hauptstadtdebatte um Berlinforum, Potsdamer Platz und Deutschem Museum. Ute Thon