Jederzeit überall

Die Festivalflut in Deutschland — Alternativkultur als Selbstläufer  ■ Von Christoph Wagner

Die Versorgungsdichte mit Festivals jeder Art nimmt von Sommer zu Sommer zu. Kein Land, keine Stadt oder Gemeinde, keine öffentliche oder private Institution, keine Kunstgattung, die nicht zur Haufenbildung aufriefe: Ein Haufen Kultur für einen Haufen Leute. Allein in Süddeutschland scheint die Flut an Festivals keine Grenzen mehr zu kennen. Von Stuttgart über Ulm bis Tübingen, von Freiburg bis München, überall wird im Großmaßstab auf Marktplätzen, in Zelten oder Liederhallen die „andere Kultur“ präsentiert. Entstanden aus dem einst verdientsvollen Kleinkunstmilieu der Nach- '68er-Zeit scheint sich das Ganze mittlerweile zu einem gigantischen Selbstläufer entwickelt zu haben, der dabei ist, im Profilierungswettbewerb der Städte der etablierten Kultur den Rang abzulaufen.

Gesponsert von Mercedes-Benz und unter der Schirmherrschaft des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel (CDU) zählt das Freiburger Zelt-Musik-Festival, das dieses Jahr zum neunten Mal am Stadtrand der Breisgau-Metropole über die Bühne ging, wohl zu den „erfolgreichsten“ Großveranstaltungen der alternativen Art. „Die unvergleichliche Atmosphäre der kleinen Zeltstadt im Grünen“ — so die Programmzeitschrift — wolle Kultur bieten, die „den vielseitigen Programmwünschen eines breiten Publikums gerecht“ wird. Das „attraktive Angebot“ mit 57 offiziellen Konzerten und 696 internationalen Künstlern beinhaltete unter anderem: eine Klassikreihe mit philharmonischen und kammermusikalischen Konzerten, einen Jazzschwerpunkt, ein Who is Who des Rock, Soul, Folk, Latin und Gospel, ein Variété-Programm, Komödie und Clowntheater, Broadway-Musical und Feuerwerksmusik plus Lasershow.

Was manche als „kulturelles Angebot“ rühmen, „das nicht zwischen ,ernst‘ und ,leicht‘, nicht zwischen ,klassisch‘ und ,modern‘ unterscheidet“, so Freiburgs Oberbürgermeister Böhme (SPD) in seinem Grußwort, könnte man ebensogut als das genaue Gegenteil beschreiben: als ein äußerst wahlloses Sammelsurium jedweder Stille und Musikformen, ein heilloses Durcheinander, dem jedes programmatische Profil abgeht, ein Mischmasch der reinen Beliebigkeiten. Dem Freiburger- Zelt-Festival-Programm ist schon seit längerem eine inhaltliche Intention nicht mehr anzumerken.

Ähnlich wie in Freiburg gibt es auch in München seit ein paar Jahren ein ebenfalls „etwas anderes Festival“: Tollwood mit Namen. Mitten im Olympiapark, einem Stück „Natur aus zweiter Hand“, erheben sich da zu einem kleinen Städtchen alternativer Kultur (vergleichbar der badischen Universitätsstadt) ein großes Zelt für 4.000 Leute, ein kleineres Theaterzelt, ein Nacht- und ein Kinderzelt, zwei Freilichtbühnen, ein Tanzboden mit Bierzelt und ein Haufen Buden und Stände mit allerlei Bio- und Ökoproduziertem. Schon ab nachmittags flaniert man mit Kindern, Hunden und Freunden herum, sitzt, kauft, ißt und trinkt (was dieses Jahr allerdings öfter ins Wasser fiel) oder genießt diverse Kulturkulinarien bis in den späten Abend hinein.

Doch wie genau man auch hinschaut, etwas Grundsätzliches bleibt im dunkeln. Die Frage nämlich, was hier eigentlich gefeiert und festivalisiert wird. Die Kultur kann es kaum sein, denn was da etwa auf dem diesjährigen Tollwood-Festival zu besichtigen war, gehört doch fast schon zum ganzjährigen Dauerangebot einer Stadt wie München. Nein, wenn nicht alles trügt, feiern sich auf diesem gemütlich-kleinstädtischen Rummelplatz die „anderen“ selbst, werden gute Ideen alternativ zu Ende verwaltet und verwandeln sich in ihre eigene Propaganda. „Toll, toller, Tollwood!“ posaunt das Programmheft. Eine Großmäuligkeit, die im begleitenden Mediengesäusel dazu führt, daß allein die pure Größenordnung des Festivals zu seiner eigentlichen Existenzberechtigung wird. Freiburg läßt grüßen!

Doch das eigentliche Ärgernis von Megaveranstaltungen dieser Art ist, daß die Funktionalisierung von Musik zum Zustandekommen eines Großereignisses unweigerlich zu einem langweiligen bis niveaulosen Programm führt, das jedes Risiko scheut. Da gibt es — wohin man auch schaut — „bekannte Gesicher, große Namen“ (Tollwood-Festivalzeitung), ausgesucht nach zwei Kriterien: Wer füllt ein Großzelt und wer ist momentan erreichbar? So kommt dann in München ein Programm zustande, das an drei Abenden die EAV präsentiert, nebst Konstantin Wecker und Nina Simone, in Freiburg spielen Al di Meola, Ten Years After und Miriam Makeba, und das traditionsreiche und früher politisch wache Tübinger Folkfestival — heute in jeder Hinsicht nur noch ein Schatten seiner selbst — wartet als Attraktionen mit Willy de Ville und Mother's Finest auf.

Auch in den Beiprogrammen dieser Festivals findet sich wenig, was nicht entweder schon häufig zu hören war oder jederzeit überall auftauchen könnte. Das Argument jedenfalls, daß mit dem Geld der großen „acts“, neue und unbekannte Künstler gefördert würden, entpuppt sich als barer Unfug. Denn erstens geht eh alles in der Masse eines inflationären Angebots unter, und zweitens: Wo — bitte schön — ist hier die Qualität oder Radikalität, die Förderung verdient? Die wenigen wirklich aufregenden Künstler verschwinden in einem Wust von Geschmäcklerischem bis Schlonzigem: englischen Allstar-Rentnerbands und zweifelhaften Klassik-Jazz-Fusionen in Freiburg, Besserwisser-Kabarett, „anarchisch“-bunten Harmlosigkeiten und Blödel-Gag-Produktionen in München.

Solche Zweifel müssen allerdings auch die Veranstalter des Tollwood- Festivals in der bayrischen Landeshauptstadt befallen haben. Oder weshalb sonst richtet man einen Programmpunkt ein mit der bezeichnenden Überschrift „Ehrliche Töne“, ein Anspruch, der eigentlich für ein „Festival der Regionen“ (so der Untertitel) eine reine Selbstverständlichkeit sein müßte.

Doch was bei Tollwood unter diesem Motto an „regionalen“ Kümmerlingen geboten wurde — angefangen bei Norbert & den Feiglingen von der Nordseeküste und Stoppok aus dem Ruhrgebiet, aufgehört bei Badesalz aus Hessen und Franek aus Bayern —, verhunzt ein Thema, das immer wichtiger wird und eine seriöse Behandlung verdient hätte: das Schöne und Subversive in den unspektakulären Gebrauchsmusiken der verschiedenen regionalen Kulturen zu erkennen, in denen sich oft ein Widerstandspotential der einfachen Leute gegen die nivellierende Moderne artikuliert. Und das ist dann ungefähr genau das Gegenteil von sogenannten „Mundart-Liedern“ —dieser folkloristischen Verharmlosung von Sprache—, welche die Öde der Einheitswelt nur mit etwas Petersilie garnieren.

Was diesen Punkt betrifft, wurde bei Tollwood eine gute Idee schlicht verramscht, denn gerade eine Stadt wie München scheint ja prädestiniert dazu, kulturelle Anstrengungen hervorzubringen, die versuchen, „den Süden im Herzen und die Welt im Kopf“ ('Süddeutsche Zeitung‘) zu behalten.

Festivals wie Tollwood — oder auch das Freiburger Zelt-Musik-Festival — demonstrieren dagegen nur, was sowieso aus allen Ritzen kriecht: die Reduktion von Kultur auf Zerstreuung bzw. auf einen Dienstleistungsservice für abhandengekommene Sinnfragen. Darüber hinaus wird aber auch noch Aufmerksamkeit für Belanglosigkeiten absorbiert, die dann denjenigen fehlt, die kulturelle Bedeutung nicht im Gigantischen, sondern im Alltag produzieren.

Was statt dessen gefragt wäre? Die Leidenschaft, programmatische Präzision und inhaltliche Schärfe von Programmachern und Klubs, denen es nicht schon allein ausreicht, daß überhaupt irgendetwas läuft.