Stilbrüche zwischen Rosenthaler, Akzisemauer und Endell

■ Die Rosenthaler Straße verbindet und zerteilt die Spandauer Vorstadt in Mitte/ Wenn es nach der Autolobby ginge, gäbe es vierspurige Autobahnen

Mitte. Deutsche Gründlichkeit ist eine schreckliche Tugend. In Zukunft mag es hier, wo sich die Rosenthaler durchs Scheuenviertel und die Spandauer Vorstadt krümmt, eine Altstadt geben. Doch den Besuchern kommt beim Anblick der leergefegten Straßen (Autos ausgenommen) unweigerlich ein Gedanke: Die Juden müssen wieder her, um das Viertel zu beleben. Was an jüdischer Kultur hier pulsierte, ist nur noch schemenhaft zu ahnen, vereinzelt aufpoliert, nostalgisch zu sehen — das verdrängte schlechte Gewissen...

Berlin, die Hauptstadt der Mietskasernen: Im Scheuenviertel standen sie — exemplarisch. Die Leute, der Abschaum, der Rest, Armut — waren nicht freiwillig gekommen, und freiwillig sollten sie auch nicht gehen. In den Hackeschen Höfen, unvorstellbar, aber auch als »Montmartre von Berlin« bezeichnet, befand sich das Künstlerviertel mit seinen Cafés, Ateliers und Werkstätten und gleichzeitig das größte zusammenhängende Hofsystem Europas mit über 800 Wohnungen. Heute schwingt hier unter anderem das Berliner Tanzensemble seine Beine und hat das Varieté Chameleon sein Domizil. Hier wird Tango gespielt und getanzt: aber bitte nicht der Gestylte und Affektierte.

Ein Varieté mit Nächteseufzern und illuminierten Hoffnungen für Ostler und Westler. Noch nicht spruchreif, seit kurzem hält ein Pantomimestudio in den Höfen Ausschau nach Unterkunft und Probenräumen. Ansonsten kleines Gewerbe, Design, Buchdruck, Architektur, Kältetechnik.

An der nächsten Ecke — eines der wenigen, aber wohltuenden neuen Cafés im Kiez, rot angemalt, mit Scheinwerfern und nostalgischem Sitzgestühl, das »CC«. Wenn's warm ist, wird auch in der Toreinfahrt bedient, Preise sind erschwinglich.

Für Architekturfreunde bemerkenswert ist im ersten Hof die mehrfarbige Fassade. Die vom Ruß der schwefligen Braunkohle ziemlich angeschwärzten, ursprünglich gelben, blauen, roten und grünen Glasursteine stammen von August Endell (Jugendstil 1904/5), der auch die dahinter gelegenen »Neumannschen Festsäle« geschaffen hatte. Die Nummer 40/41 birgt heute neun gewerblich genutzte Hinterhöfe, was immer noch dichte Bebauung der Rosenthaler Vorstadt ahnen läßt.

Die Straße gab's schon im Mittelalter und führte zum Dorf Rosenthal. Sie beginnt am S-Bahnhof Marx-Engels-Platz (ehemals Börse) südlich vom Hackeschen Markt. Der Bahnhof ist der einzige, der von der 1882 eröffneten Stadtbahn in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben ist. Ein Prestigeobjekt. Verziert mit reichen historischen Ornamenten (Johannes Vollmer), steht er unter Denkmalschutz. Ein typischer Bau der Gründerzeit — reiche Schmuckelemente, mit Bögen und Gesimsen.

Von hier führte eine Ausfallstraße in Richtung Spandau, heute ist das die Oranienburger Straße. Daher auch die Bezeichnung des nördlich gelegenen Stadtviertels: »Spandauer Vorstadt«.

Wenn mein Nachbar erzählt, daß er vor gar nicht allzu langer Zeit über die August-Straße in die Gipsstraße und Sophienstraße bis zum Hackeschen Markt über die Hinterhöfe stromern konnte, klingt das unwahrscheinlich, angesichts der vielen Mauern, die Einfahrten und Durchblicke versperren. Aber das ist nichts Neues: Bereits im frühen 18. Jahrhundert hat hier eine Mauer gestanden, die Akzisemauer wurde dann in die heutige Wilhelm-Pieck-Straße verlegt und 1867 abgerissen.

Nach dem neuzeitlichen Mauerfall fiel auch die Abstinenz und in rascher Folge entstanden neue »Erlebnisräume«. Ungeachtet der sich wandelnden Fassaden ist uns wenigstens die gute alte Straßenbahn der Rosenthaler treu geblieben, Fortbewegungsmittel zum einen und Reifentöter für Fahrradfahrer zum anderen.

Einige wenige Konsumruinen gibt es zumindest: der Eisbär, eine Eisdiele, die wohl nie fertig wird, und der Eckladen an der Sophienstraße, der bereits zum zweiten Mal in einem Jahr neu bezogen wird.

Die Rosenthaler und ihr bizarrer Charme: Neubauidylle und Hinterhofmentalität, Beton hatte verdammt noch mal schön zu sein, deshalb gibt's jetzt einen Stilbruch in Richtung Rosenthaler Platz. Letzte Errungenschaft ist der »Rosenthaler Neumarkt«, dem Äußeren nach sieht er eher wie ein verkürztes Zirkuszelt aus.

Andere Neuerungen für den wilden Osten sind nette und unverbindliche Pappstewardessen, die auf den Trottoiren Passanten nerven, weil sie mit ihren Paketen und Schachteln zum Dienstschluß an den Werbetafeln nicht vorbeikommen. Zumindest dem Verkehr geht es prächtig: Zwei neue U-Bahnhhöfe, Weinmeisterstraße, und Rosenthaler Platz haben sich ihrer Gespensterkulisse entledigt.

Familie Werner lehnt auf Kissen im Fenster und schaut in den verregneten Feierabend: Unten quält sich, wer vom Wedding nach Kreuzberg und umgekehrt will. Stadtplaner haben da geniale Ideen. Das Nadelöhr Rosenthaler wird am besten erweitert, indem es zur vierspurigen Rennbahn umfunktioniert wird. Der »Eimer« und das Haus, in dem sich mein Lieblingsfahrradladen befindet, würden dann mit verschwinden. Die Bürgerinitiative Spandauer Vorstadt befürchtet nicht umsonst, daß der Verkehr auch die neuen »Freiräume« verstopfe, wenn sie erst einmal da sind. Die unüberwindliche Straße würde das ohnehin zerklüftete Wohnensemble eher noch mehr zerschneiden denn verbinden. Eine neue Mauer. Gebaut wird zumindest an einigen Fassaden. Geld ist wie überall im Osten knapp, Eigentumsfragen ungeklärt. Aufgehört wurde erst mal an der Berolina-Apotheke: Das Gerüst, von der Wiederaufbau GmbH hingestellt, ist wieder abgebaut. Das Dach — dicht; die Firma — pleite. Die Größen der Spandauer Vorstadt ruhen auf dem Garnisionsfriedhof, Kleine Rosenthaler Straße 7. Unter anderem liegen hier die Gräber der Grafen von Holttzendorf, (gestorben 1829), (Grabstele vermutlich von Schinkel) Freischarführer Adolph v. Lützow (1834), Dichter Friedrich de la Motte Fouqué (1843). André Beck