Meine geheimen Jugendgedichte

■ taz-Autorinnen und -Autoren öffnen ihre Schubladen — Heute Folge 7: Ex-taz-Mitarbeiter Stefan Schwarz

Zur Erinnerung: Hans-Hermann Kotte klagte, »die wolken sind nie im radio«, Katrin Bettina Müller sinnierte »vielleicht werde ich Missionar und fahr ins große Afrika«, André Meier recherchierte »Freddy lutscht Erdbeereis warum wer weiß«, Ute Scheub verewigte den »Kapitalismus, der heute zerkracht«, André Beck wußte, »zur grundausstattung gehören rollgurte«, Dorothee Hackenberg prophezeite »kein Rufen nützt dem Unglückswurm«, und Anja Baum bekannte: »an deinen Klippen zerschellt, fall ich zurück«. Auch heute soll sich wieder das früh- bis spätpubertäre Jugendgedicht mit seinen geheimsten Leidenschaften, Antriebsfedern und ausgefeiltesten Verzweiflungen niederschlagen. Denn auch zu den persönlichen und gesellschaftlichen Abgründen der Vergangenheit muß man stehen, um die Brüche und Verwerfungen deutlich zu machen und gemeinsam verarbeiten zu können.

Stefan Schwarz, Jahrgang 1965, war bis zu seiner Enttarnung als »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) Mitarbeiter der taz, zunächst bei der Ost-taz, später als Leipziger Korrespondent beschäftigt. Im Alter von 17 Jahren, 1982, hatte er sich bei der »Hauptverwaltung Aufklärung« beworben. Die taz veröffentlichte im April 1991 ein Interview mit dem Ex-Stasi-Offizier, in dem sie sich mit ihm und seiner Arbeit öffentlich auseinandersetzte. Die Veröffentlichung des Interviews wie auch die hier erstmals veröffentlichten frühen Schwarz-Gedichte, die 1980-87 in Mecklenburg und Thüringen entstanden, transzendieren den »Fall Schwarz«. Wir halten solche Veröffentlichungen für unbedingt notwendig, schon allein weil sie deutlich machen, wie wenig man mit Dämonisierungen die real fortwirkende Macht der Stasi erklären kann.

Gegen Ende des Sommers

(Für K.)

Nun bist Du fortgekommen

So einfach über Nacht

Komm wieder in die Schranken

Habe ich zu Dir gesagt

Wir waren doch eine Rede

Von Stupide bis Extrem

Nun bist Du abenteuerlich

Und ich bloß bequem

Wozu die Länder wechseln

So billig wie ein Hemd

Ich bleib mit meinem Kopf

An allen Orten fremd

Anleitung über ein schnelles Leben

Denk nur

Wenn es Dich einmal reißt in die Höhen des Lichts

Denk

Da bist Du schon gewesen

Du kleines Nichts

Denk nur

Wenn Dir der Leib krampft zum Atmen kaum

Denk

Das ist Dir früh geschehen

Du kleiner Traum

Denk nur

Wenn Du schwere Lider sanft streichst in die Nacht

Denk

Das könnte Dir einst fehlen

Du kleine Macht

Denk nur

Wenn Du andere kalt trittst an schartige Wände

Denk

Das hast Du auch gewollt

Du kleines Ende

Denk immer

Wenn Dir das Leben ausreift im Streit

Daß Dir im Innren eine Kraft gedeiht

Den Schluß noch zu machen und ohne Not

Auf daß Dir Dein Leben eine Lehre war über den Tod

Abend mit Heuschrecken

An einem Abend mit Heuschrecken

Die spiegelnden Glotzaugen

Und die hängenden Flügel

Und die Hitze

Ich bin gekommen

Um den Uneinsichtigen die Einsicht zu bringen

In die Überlegenheit der Reflexe

Trockene Geräusche

In einer Wirklichkeit ohne Echo

Und wer den Streß auslöst

Macht sich frei

An einem Abend mit Heuschrecken

Als sie langsam erwachen

Packe ich ein wie jeden Tag

Langer Atem

Mit zunehmendem Alter

Selbstbewußtseinseintrübung

Chaotische Soli

Im Ensemblespiel meiner wesentlichen Verhältnisse

So

Ein Weg ist immer

Tief Atem schöpfen

Nicht die Frage Wohin aber

Wo?

Am Morgen im Radio

Die Nachricht aus meinem Leben

Macht mir das Brot zäh im Mund

Und die schlagendste Widerlegung/Bestätigung

Ist die, die ich nicht gerade weiß

SINGT die Fehler verborgen im Allgemeinen

Oder der Teufel steckt im Detail

Meine Welt zerreißt mir in Widersprüche

Und wird bis zum Schluß nicht mehr heil

Am Abend Fernsehbildbläue unter den Augen

Lippennagend, kalt kauernd im Sessel

Der Cäsar, konfus, inmitten kochender Horden

Ist das noch Krieg?

Varus, gib mir meine Gegner wieder

Unter den blinden Sehern gilt

Der Äugende wenig

Ich trau meinen Sinnen

Nicht einfach über den Weg

Was heute nicht geht, kann niemals gelingen

Oder vielleicht auch morgen

Meine Zeit ist aber gekommen

Trotz der Kontraste

Ein unstillbares Verlangen nach grauen Tönen

Wie weich muß ich sein, um hart zu bleiben

Und selbst, was ich Schwarz/Weiß besitze

Ist schon Kompromiß

SINGT in meinem Kopf schwelt die Utopie

Es erstickt sie nicht argloser Widerstand

Die Glut frißt auch Umwege in die Richtung

Eine Welt, die mir gleich sei/ oder verwandt

Jeden TAG schlägt die Zeitung mich auf

Was kann ich tun/Was soll ich tun?

Langer Atem

Ich leb so gern in meinem Land

Es hat im süden Berge und hat im Norden Strand

Ich leb so gern in meinem Land

Und doch, du wirst es nicht erreichen

Du mußt die Luft anhalten, du mußt die Segel streichen

Du mußt die Augen schließen, du darfst es niemals sehen

So mußt du alles glauben, einfach nicken und verstehen

Schrei mich nicht an, du wirst hier nichts bewegen

Es bewegt sich schon von selbst und braucht bloß deinen Segen

Lauf du nur stets im Kreise behalt für dich den Rat

Die Welt ist nur ein Bild im Fernsehapparat

Na los, was kannst du schon vollbringen

Dich unter stumpfe Arbeit knechten oder bloß Reden schwingen

Du kannst wie immer Geld anhäufen, fressen, ficken, ich ersäufen

Du kannst versuchen, klug zu leben — und doch

Das wirst du nicht erreichen und das ist es eben

Ich leb so gern in meinem Land

Es ist ein Land von Zwergen und lebt von seinem Tand

Ich leb auch gern in meinem Land