ESSAY
: Angst, Wurzel der Korruption

■ Von Aung San Suu Kyi, Burmas inhaftierter Oppositionsführerin, die gestern in Straßburg den Sacharow-Menschenrechtspreis erhielt

Die 46jährige Tochter des birmanischen Nationalhelden Aung San gründete 1988 die „Nationale Liga für Demokratie“, die bei Wahlen im Mai 1990 82 Prozent der Stimmen erhielt. Das Militärregime weigerte sich aber, die Regierung abzugeben und hielt sie weiter unter „Hausarrest“. Ihr Ehemann Michael Aris, der als Professor für Tibetanische Geschichte in Oxford lebt, hat sie zum letzten Mal vor 18 Monaten sehen dürfen, seit einem Jahr hat sie ihm auch nicht mehr schreiben dürfen. Er und der gemeinsame Sohn nahmen gestern stellvertretend für sie den Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments entgegen.

Man wird nicht durch Macht korrumpiert, sondern durch Angst. Die Angst vor dem Verlust von Macht korrumpiert diejenigen, die sie besitzen, und die Angst vor der Geißel der Macht korrumpiert diejenigen, die ihr unterworfen sind. Die meisten Burmesen kennen die vier a-gati, die vier Formen der Korruption. Chanda-gati, Korruption durch Begierde, ist ein Abweichen vom richtigen Weg durch die Jagd nach Bestechungsgeldern oder denen zuliebe, die man liebt. Dosa- gati bedeutet, den falschen Weg zu gehen, um anderen zu schaden, für die man Mißgunst empfindet, und moga-gati bedeutet, aus Unwissenheit den falschen Weg zu gehen. Aber die schlimmste ist bhaya-gati, denn bhaya, die Angst, erstickt und zerstört nicht nur allmählich jedes Gefühl für richtig und falsch, sondern ist oft die Wurzel der anderen drei Formen der Korruption.

Ebenso wie chanda- gati, wenn sie nicht das Ergebnis bloßer Gier ist, durch Angst vor Mangel oder Angst vor dem Verlust der Zuneigung derer verursacht werden kann, die man liebt, kann die Angst davor, unterlegen zu sein, gedemütigt oder verletzt zu werden, ein Impetus für Mißgunst sein. Und es ist schwer, die Unwissenheit zu beseitigen, solange man nicht die Freiheit hat, die Wahrheit ohne Angst zu verfolgen. Bei einer so engen Verbindung zwischen Angst und Korruption ist es kein Wunder, daß in jeder Gesellschaft, in der Angst herrscht, Korruption in jeder Form fest verwurzelt ist.

Man hat die wirtschaftliche Not als Hauptursache für die Demokratiebewegung in Burma angesehen, die durch die Studentendemonstrationen des Jahres 1988 ausgelöst wurde. Es ist richtig, daß eine jahrelange konfuse Politik, ungeeignete Verwaltungsmaßnahmen, wuchernde Inflation und sinkendes Realeinkommen das Land in ein wirtschaftliches Chaos verwandelt haben. Was aber die Geduld eines traditionell friedfertigen und ruhigen Volkes zermürbt hat, war Korruption und Angst. Die Studenten haben nicht nur gegen den Tod ihrer Kommilitonen demonstriert, sondern gegen die Verleugnung ihres Rechts auf Leben durch ein totalitäres Regime, das der Gegenwart ihre Bedeutung nahm und für die Zukunft keine Hoffnung bot. Und weil die Studentenproteste die Frustrationen der Allgemeinheit ausdrückten, wurden die Demonstrationen schnell zu einer nationalen Bewegung.

Die Anstrengungen, die notwendig sind, um sich in einer Umgebung nicht korrumpieren zu lassen, in der die Angst ein integraler Teil des Alltagslebens ist, ist für die nicht sofort erkennbar, die das Glück haben, in Rechtsstaaten zu leben. Gerechte Gesetze verhindern nicht nur durch unparteiische Bestrafung die Korruption, sie helfen auch dabei, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können, die zur Wahrung der Menschenwürde gehören, ohne auf korrupte Praktiken zurückgreifen zu müssen. Wo solche Gesetze fehlen, wird die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit und Anstand den einfachen Menschen auferlegt.

Durch ihr andauerndes Bemühen und ihre Standhaftigkeit wird eine Nation, in der Vernunft und Gewissen von der Angst verzerrt werden, in eine Nation verwandelt, in der Gesetze dazu da sind, den Wunsch des Menschen nach Harmonie und Gerechtigkeit zu unterstützen, während sie die weniger angenehmen, destruktiven Tendenzen seines Charakters in Schranken halten.

Ohne eine geistige Revolution wären die Kräfte, die die Ungeheuerlichkeiten der alten Ordnung hervorgebracht haben, weiterhin wirksam. Es genügt nicht, nur nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zu rufen. Es ist eine gemeinsame Entschlossenheit notwendig, den Kampf durchzustehen, im Namen dauerhafter Wahrheiten Opfer zu bringen, den korrumpierenden Einflüssen von Begierde, Mißgunst, Unwissenheit und Angst zu widerstehen.

Man sagt, Heilige sind Sünder, die nicht mehr zu sündigen versuchen. Dementsprechend sind freie Menschen Unterdrückte, die versuchen, sich von der Unterdrückung zu befreien, und die dabei lernen, die Verantwortung zu übernehmen und Disziplin aufrecht zu erhalten, von denen eine freie Gesellschaft lebt. Unter den wesentlichen Freiheiten, die der Mensch anstrebt, ist die Freiheit von Angst Mittel und Zweck zugleich. Ein Volk, das eine Nation aufbauen will, in der starke demokratische Institutionen als Garantie gegen die vom Staat ausgehende Gewalt fest verankert sind, muß vor allem lernen, das eigene Bewußtsein von Apathie und Angst zu befreien.

Nehru, der es für Gandhis größten Erfolg hielt, dem indischen Volk Mut gegeben zu haben, war ein politischer Modernist, aber als er die Bedingungen für eine Unabhängigkeitsbewegung im zwanzigsten Jahrhundert einschätzte, fand er zur Philosophie des alten Indien: „Das größte Geschenk für ein Individuum oder eine Nation [...] war abhaya, Furchtlosigkeit, nicht nur körperlicher Mut, sondern das Fehlen von Angst im Bewußtsein.“

In einem System, das die Existenz grundlegender Menschenrechte verleugnet, ist Angst an der Tagesordnung. Angst vor Gefangenschaft, Folter, Tod, Angst vor dem Verlust von Freunden, Familie, Besitz oder Lebensunterhalt, Angst vor Armut, Isolation, Versagen. Eine besonders heimtückische Form von Angst gibt sich als gesunder Menschenverstand oder gar Weisheit aus und verteufelt die kleinen, alltäglichen, mutigen Taten, die die menschliche Selbstachtung und Würde bewahren, als verrückt, leichtsinnig unwichtig oder nutzlos. Für ein Volk, das unter der eisernen Herrschaft des Prinzips, daß Macht Recht ist, von Angst beherrscht wurde, ist es nicht einfach, sich von deren quälenden Wirkungen zu befreien. Doch selbst unter der zerstörerischsten Staatsmaschinerie erhebt sich immer wieder Mut, denn Angst ist kein natürlicher Zustand für einen zivilisierten Menschen.

Durch seine Fähigkeit zur Selbstverbesserung und Selbstbefreiung unterscheidet sich der Mensch vom bloßen Tier. Die Vision einer Welt, in der eine vernünftige, zivilisierte Menschheit lebt, führt den Menschen dazu, Wagnisse einzugehen und zu leiden, um Gesellschaften aufzubauen, die frei von Mangel und Angst sind.

Übersetzung aus dem Englischen von Gabriele Ricke. Ein ausführliches Porträt von Aung San Suu Kyi stand gestern unter dem Titel Eine Frau lehrt die Generäle das Fürchten in der taz (S. 13).