: Der Weltwirtschaftsgipfel: Plus oder minus eins?
Japan fürchtet seine Isolierung auf dem Treffen der G7-Regierungschefs in London/ Der Osten ist für den Westen nicht mehr London, sondern Tokio ■ Aus Tokio Georg Blume
Kurz vor dem G7-Treffen der Regierungchefs am Montag in London fürchtet Japan um seinen Platz in der Weltpolitik. „Der Weltwirtschaftsgipfel“, zürnt der japanische Regierungschef Toshiki Kaifu, „ist nicht für die Sowjetunion da. Dort wird über globale Probleme geredet.“ Doch die starken Worte Kaifus können die Sorgen der japanischen Regierung kaum verdecken. „Die Einladung an Gorbatschow“, prophezeit ein Beamter des japanischen Außenministeriums, „bedeutet für uns, daß die Existenz Japans an Gewicht verliert. Der Gipfel“, an dem neben Japan die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada plus ein Vertreter der EG-Kommission teilnehmen — „wird europazentriert verlaufen.“
Entsprechend kommt die Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘ zu dem Schluß: „Aus dem als G7-plus-eins geplanten Gipfel könnte leicht ein G7-minus-eins-Gipfel werden.“ Dahinter steckt die Befürchtung, daß sich Japan möglicherweise als einziges der reichsten Industrieländer jedem Unterstützungsplan für die Sowjetunion widersetzen wird. Dann stünde die ganze westliche Welt hinter Gorbatschow — minus Japan.
„Wenn sich Japan weiterhin so vorsichtig verhält“, warnt eine Stimme des japanischen Außenministeriums, „und wenn wir uns weiterhin auf den Inselstreit mit der Sowjetunion beschränken, dann wird Japan unvermeidlich als ein egoistisches Land kritisiert werden, das seine internationale Verantwortung nicht erfüllt.“ Offenbar dämmert es der japanischen Regierung, welches Risiko sie einging, als sie Gorbatschow nach seinen historischen Tokio-Besuch im April mit leeren Händen nach Hause schickte. Damals bestand Tokio auf der Rückgabe jener vier von Stalin annektierten Kurileninseln, bevor auch nur ein Yen nach Moskau fließt. Nun aber läuft Japan Gefahr, vom Westen zur Moskau- Hilfe gezwungen zu werden, ohne auch nur einen Quadratmeter Kurilenland zu gewinnen. Klar wie nie zuvor zeichnen sich die Interessenkonflikte zwischen West und Ost ab — nur ist der Osten nicht mehr Moskau, sondern Tokio.
Bereits Ende Mai besprachen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein japanischer Amtskollege Taro Nakayama in Bonn die verquickte Lage. „Sie in Europa reden von der Unterstützung der Sowjetunion“, soll Nakayama gesagt haben, „aber wer bezahlt? Nur Deutschland und Japan sind dazu in der Lage.“ Genschers Antwort sei unmißverständlich gewesen: „Ja, Deutschland und Japan sind dazu in der Lage, und diesmal ist Japan dran.“
Gerade auf diese Art aber will sich Japan in London nicht zur Kasse bitten lassen. Das Tokioter Regierungsmotto für den Weltwirtschaftsgipfel lautet deshalb: Zeitgewinn. Schon hat die japanische Regierung erklären lassen, daß sie die Notwendigkeit finanzieller Unterstützung für Moskau anerkennt. Auch mit einer Sondermitgliedschaft für die Sowjetunion im Internationalen Währungsfond erklärt sich Japan einverstanden. Bevor allerdings Kredite nach Moskau vergeben werden, so argumentiert Tokio unverändert, bedürfe es immer noch „großer Fortschritte für die Perestroika“. Eine derartige Wortfloskel wünscht sich Japan auch in der Londoner Abschlußerklärung. „Es ist am besten“, befand ein Regierungsmitglied, „den japanischen Standpunkt mit einer Wortformel durchzusetzen, gegen die sich die anderen Länder nicht wehren können.“ Nur so lasse sich „der kalte Blick der Europäer“ vermeiden.
Im japanischen Taktierspiel aber könnten auch die berechtigten Einwände untergehen, mit denen sich Tokio dem oftmals einseitig westlichen Bild der G7-Weltpolitik widersetzt. Auf dem Houstoner Weltwirtschaftsgipfel vor einem Jahr verbuchte Japan politische Erfolge, als die Mitgliedsstaaten die japanische China-Hilfe billigten und die japanischen Territorialansprüche auf die Kurileninseln in der Abschlußerklärung unterstützten. Auch in London beansprucht Tokio den „asiatischen Standpunkt“ zu vertreten — die Regierung in Peking hat Japan sogar ausdrücklich darum gebeten. Wer deshalb Japan um Kredite für die Sowjetunion anhält, muß auch beachten, in welchem Maße andere Hilfsprogramme unter der neuen Prioritätensetzung leiden. Zwar wird Japan voraussichtlich auch im nächsten Jahr seiner Rolle als mit Abstand größter Finanzspender der Welt gerecht werden, doch zeichnen sich die Grenzen des Geldabflusses ab. Die großen Tokioter Banken leiden bereits unter Kapitalnot und werden in diesem Jahr ihre Auslandsgeschäfte zurückschrauben müssen.
Nach dem Wunsch der japanischen Regierung, der von den USA unterstützt wird, soll vor allem das wirtschaftlich langsam wiedererwachende China davon unbeschadet bleiben. Darüber hinaus besteht auch in London zwischen den USA und Japan in vielen Punkten Uneinigkeit, so über den japanischen Reismarkt, der bislang strikt vom Ausland abgeriegelt ist. Bisher steht die Reisfrage im Hintergrund der Gatt-Gespräche über ein neues internationales Zoll- und Handelsabkommen, für deren Fortkommen der Londoner Gipfel sorgen will. Doch wenn Japan heute nicht versucht, eine eigene Antwort auf die Reisfrage zu entwickeln, wird die Welt wohlmöglich die Marktöffnung erzwingen — mit dem absehbaren Erfolg, daß die meisten Japaner ihre Regierung für durchsetzungsunfähig und das Ausland schlechthin für schuldig befinden werden.
Zumindest von der Zinsfront kann Tokio den G7-Partnern Beruhigung melden. Erst vergangene Woche senkte die japanische Notenbank den Leitzins von sechs auf 5,5 Prozent. Besonders Washington, das sein Haushaltsdefizit mit vornehmlich japanischem Geld finanziert, hatte darauf gedrängt. Die Zinsrücknahme verspricht den internationalen Kreditmärkten mehr Spielraum.
Der britische Premier John Major hat im Vorfeld des Gipfels vorgeschlagen, die auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1988 in Toronto eingeleitenden Maßnahmen zur Entschuldung der Dritte-Welt-Länder in diesem Jahr zu erweitern. Um neben den Diskussionen über die Moskau-Hilfe nicht ein zweites Mal als geizig dazustehen, wird sich die japanische Regierung in London einem weiteren Schuldenerlaß für die ärmsten Länder der Welt nicht widersetzen.
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