Moabiter Befangenheiten

Im Prozeß um den Tod von Chris Gueffroy beherrschten die Anträge der Verteidigung auch gestern die Verhandlung/ Befangenheit des Vorsitzenden noch nicht entschieden  ■ Aus Berlin Götz Aly

Gnadenloses Blitzlichtgewitter. Ein korrekt gekleideter 22jähriger drängt sich in den Saal 700, der Kellner Christian Gaudian. Der Kronzeuge, der überlebende Freund des Chris Gueffroy. Rein rechtstechnisch gesprochen blieb dem Gericht, das über die letzten Schüsse an der Berliner Mauer zu verhandeln hat, ein Zeuge erhalten, und das ist eine rare Ausnahme. Wie hätten die DDR-Behörden den Tod Gueffroys vertuscht, hätten sie es nicht mit dem überlebenden Freund des von Staats wegen Ermordeten zu tun gehabt? An was alles hätten sich die angeklagten Schützen nicht mehr erinnert, hätten ihnen die Ermittlungsbehörden nicht aus den Aussagen Gaudians Vorhalte machen können? Aber kann Gaudian ein glaubwürdiger Zeuge sein, gar der Kronzeuge der Anklage? Wie er später einräumt, hat er die Situation an der Grenze vor drei Wochen schon einmal für das ZDF nachgestellt, zuvor schon einmal zusammen mit einem Dokumentarfilmer. Am letzten Mittwoch hatte er unerlaubt für eine halbe Stunde der Hauptverhandlung zugehört. Wichtiger aber sind generelle Fragen: Allein der Versuch einer Flucht bedeutete äußerste Anspannung, die eigene Verletzung, mehr noch der sterbende Freund an seiner Seite waren traumatisch. Die halbbewußte Schuld dessen, der rein zufällig überlebt, während der andere tödlich getroffen wird — muß dies alles nicht fast zwangsläufig den Wert der Aussage Gaudians schmälern? Und möglicherweise trägt Gaudian bewußt oder halbbewußt an einer schweren Gewissenslast: Er war es, wie er später berichtet, der über einen Stolperdraht fiel, das Geheule der Sirenen und Blinkanlagen auslöste, der „Disco“, wie die Grenzer das nannten. Aber längst war es gestern vormittag im Moabiter Kriminalgericht noch nicht soweit. Über das Wochenende hatte Rechtsanwalt Eisenberg, per 'dpa‘ und Fernsehen einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens angekündigt. Nach Eröffnung der Verhandlung bleibt Eisenberg stehen, wippt von einem Bein aufs andere. Der Vorsitzende hat alle Mühe, ihn zum Sitzen zu bewegen. Denn er ist es, der zunächst eine Erklärung abgeben möchte. Schließlich „gehört zur Verfahrenskultur des Prozesses auch die Art und Weise der öffentlichen Berichterstattung“. Ein Redakteur der 'Super-Illu‘ hatte, so berichtet der Richter Theodor Seidel, übers Wochenende versucht, an seinem früheren sächsischen Wohnort — Seidel ist 60 Jahre alt und siedelte bereits 1950 in die Bundesrepublik über — Details über seine private Lebensgeschichte zu recherchieren, hatte dann den in Weimar lebenden Bruder des Vorsitzenden überrascht, gegen dessen Willen fotografiert, ihn erfolglos zu Auskünften überreden wollen. Der Vorsitzende weiß zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht, daß im Hintergrund dieses Recherchierens steht, was der am Morgen erschienene 'Spiegel‘ bereits andeutet: Der Bruder des Vorsitzenden hatte 1966 erfolglos versucht, aus der DDR zu fliehen, dieser Fluchtversuch war gescheitert, der Bruder ist zu drei Jahren verurteilt worden — zwei Jahre hat er davon abgesessen. Daraus könnte sich eine quasi familiäre Voreingenommenheit — später wird der Verteidiger Spagenberg von „Verstrickung“ sprechen — des Vorsitzenden Richters gegenüber den vier angeklagten ehemaligen Grenzern ableiten...

Nach der knappen, auf die allernötigste — aber wie sich herausstellen wird, eben doch unvollständigen — Information beschränkten Stellungnahme Seidels kommt dann Rechtsanwalt Eisenberg an die Reihe. Er beantragt, die am Verfahren beteiligten Laienrichter „wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen“, da sie durch die Veröffentlichung der Farbfotos des toten Chris Gueffroy, „durch aufpeitschende Presseberichte“ und eine breite Praxis der öffentlichen Vorverurteilung „voreingenommen sein müssen“. Die Staatsanwaltschaft habe das zugelassen, „sich nicht zu einem beherzten Durchgreifen“ gegen 'Super-Illu‘, 'Super‘ und 'Bild‘ entschlossen. Der Antrag wird abgelehnt. Fortgesetzt aber wurde die Presse-Schlammschlacht auch gestern: Wieder druckte die 'Super‘ das Foto des Erschossenen ab. Titel: „Es geht um ihn!“ Im Text heißt es: „Johannes Eisenberg, der Anwalt des mutmaßlichen Todesschützen im Mauermordprozeß, hat gestern in unglaublich unverfrorener Weise Richter und Schöffen unter Druck gesetzt. Er forderte, das Verfahren einzustellen. Grund: die Veröffentlichung der Todesfotos von Chris Gueffroy.“ Und 'Super‘ dröhnte in der Pose des Anwalts der verstörten DDR-Volksgemeinschaft weiter: „Es geht nur um eine Sache, Herr Anwalt — um den auf Honeckers Mordfehl hin erschossenen Chris (Foto).“ Unter diesem Aufmacher findet sich dann die Schlagzeile: „Honecker unter Arrest — ,Zu feige zum Sterben‘“. Jenseits dieser nekrophilen Widerlichkeiten ist vorallem dies zu bemerken: Wenn in diesem Verfahren eine Tatsache unbestritten ist, dann die, daß Eisenbergs Mandant der einzige unter den vier Angeklagten war, der nicht schoß.

Später stellt dann Rechtsanwalt Spangenberg den Antrag auf Ablehnung des Vorsitzenden Richters, da er aufgrund des Fluchtversuches seines Bruders dem Angeklagten Heinrich als befangen erscheinen könne. Der Antrag wird zurückgestellt. In all dem Rummel geht die Tätigkeit der Kanzlei Bossi&Ufer fast unter: Der ewig braungebrannte Münchner Prominenten-Anwalt Ufer räumt ein, „daß zwischen ihm und der 'Super-Illu‘ vertragliche Beziehungen bestehen“, die Verteidigung des Angeklagten Schmett teilweise durch diese Zeitschrift bezahlt wird. Aber diese Praxis, wie sie von ihm und Bossi in den letzten Jahren „speziell erlebt wurde“, sei weder ehrenrührig noch standeswidrig. Selbstredend habe er nicht gewußt, was die 'Super-Illu‘ mit Prozeßmaterialien mache, die Veröffentlichung der Fotos des Toten sei ein „mehr als unglückliches Vorkommnis“. Die klare Aussage, daß die Bilder keinesfalls aus seiner Kanzlei stammen, vermeidet Ufer. Schließlich tritt Christian Gaudian doch noch in den Zeugenstand. Insgesamt wird seine durchaus widersprüchliche Aussage im nächsten Bericht zu würdigen sein. Für die Realität der alten deutsch-deutschen Grenze, für den dort herrschenden Kadavergehorsam und Zynismus sind jedoch folgende Details von Interesse: Als Gaudian angeschossen im Graben lag und fragte: „Wann kommt ein Krankenwagen?“, da stippte ihm ein Grenzer eine brennende Zigarettenkippe hin und antwortete nichts. Und später, im Krankenhaus der Volkspolizei, wurde Gaudian nicht zuerst ärztlich versorgt, sondern zuerst vernommen. Als er Namen nicht angeben wollte, da sagte der Vernehmer: „Entweder sagen Sie, wer Sie und der andere sind, oder Sie bleiben ein Krüppel.“