Der Streit um „gute“ und „böse“ Spione

In München steht der Generaloberst der DDR-Auslandsspionage, Harry Schütt, vor Gericht/ Alles wartet auf den Zeugenauftritt von Markus Wolf/ DDR-Spione sollen sich vor Gericht verantworten, BRD-Agenten dürfen weiter spionieren  ■ Aus München Erwin Single

„Ich bin mir sicher, daß er kommen und aussagen wird. Wenn Sie ihn früher bestellt hätten, wäre er früher gekommen.“ In der Stimme des akkurat gekleideten Herrn auf der Anklagebank schwingt mehr als nur Hochachtung mit. Harry Schütt, einst Generaloberst der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), fiebert dem Erscheinen seines früheren Chefs entgegen: „Er war mein Vorgesetzter, er läßt Schütt nicht im Stich“. Für den 10. Oktober ist die Agenten-Legende Markus „Mischa“ Wolf, per Haftbefehl gesuchter ehemaliger DDR-Spionagechef, vor das Bayerische Oberste Landesgericht geladen, wo sich seit Anfang Juni der 60jährige Schütt wegen Beihilfe zum Landesverrat verantworten muß. Und auch der Vorsitzende Richter Ermin Brießmann, der vor Wochen noch liebend gerne auf den Zeugen Wolf verzichtet hätte, ist gespannt: „Wir könnten ihn zu jedem der nächsten Termine vernehmen, dazu wäre das Gericht bereit.“

Der in Österreich unter Hausarrest stehende Wolf muß also nur kommen. Der Bundesgerichtshof hat dem einstigen Agentenführer „freies Geleit“ für den Gerichtstermin zugesichert. Daß der Moskau-Flüchtling die Ladung für einen spektakulären Auftritt nutzen wird, bezweifelt niemand. Er halte das Verfahren gegen Schütt für rechtswidrig, hatte Wolf neulich bereits einigen 'Spiegel‘-Redakteuren diktiert, er könne zu einer „grundsätzlichen Klärung der Rechtssituation“ für seine ehemaligen Mitarbeiter beitragen.

Der Gang der Geschichte hat Harry Schütt vor den Kadi gebracht. Spionage wird strafrechtlich verfolgt, wenn sie vom In- und Ausland gegen das eigene Vaterland betrieben wird, das ist überall so. Kaum aber hatte das bundesdeutsche Strafrecht das DDR-Recht geschluckt, blies Alexander von Stahl zur Jagd auf die Ost-Agenten und ihre Drahtzieher: rund 5.000 ehemalige HVA- Kundschafter will der Generalbundesanwalt anklagen. Dem Späherführer Harry Schütt winkte er mit der Einstellung seines Ermittlungsverfahrens: Schütt brauche nur die Namen noch nicht enttarter Spione und HVA-Mitarbeiter ausspucken, das werde man ihm später als „tätige Reue bei Staatsschutzdelikten“ anrechnen. Der Späherchef plauderte, jedoch zuwenig. Auf Vorwürfe der Verteidiger, Zusagen gebrochen zu haben, konterte der Generalbundeswanwalt, Straffreiheit gebe es nur, wenn Schütt „die Hosen auch wirklich runterlasse“.

„Defensive“ und „offensive“ Spionage?

Während Aufklärer des Bundesnachrichtendienstes (BND) weiter ihrem Job nachgehen, muß Stasi-Offizier Schütt zusammen mit seinem damaligen Mitarbeiter Günter Böttger die Anklagebank drücken. Schütt, der selbst die DDR nie zu Spionagezwecken in Richtung Westen verließ, steuerte seine Agenten vom Ostberliner Schreibtisch aus — genauso wie es seine Gegner, die BND-Chefs im Westen taten. Der Bundesgerichtshof lieferte für das Verfahren die höchstrichterliche Begründung, wie zwischen „bösen“ und „guten“ Spionen zu trennen sei: der gegnerische DDR-Spionagedienst habe die äußere Sicherheit der Bundesrepublik bedroht, während der BND deren Schutz diene.

So gelang es der Bundesanwaltschaft, den Fall Schütt an einen ganz gewöhnlichen Agentenprozeß anzuhängen, in dem sich der ehemalige Berufssoldat und spätere BND-Mitarbeiter Alfred Spuhler und sein als Kurier tätiger Bruder Ludwig des Landesverrats in einem besonders schweren Fall verantworten müssen. Daß jetzt Anstifter und Auftraggeber mit angeklagt sind, hat die Geheimdienst-Story der Spuhler-Brüder, die leicht ein Krimi-Dehbuch abgeben könnte, zur Nebensache gemacht: 16 Jahre lang hatten die Spuhlers, „aus Überzeugung“ übrigens, auf den abenteuerlichsten Wegen den realsozialistischen Nachbarstaat mit „geheimen“ Informationen und Dossiers versorgt, darunter die jährlichen militärischen Lageberichte Ost des BND.

Wie stark die Depeschen über das, was der Westen vom Osten weiß, die Sicherheit der Bundesrepublik tatsächlich gefährdet haben, wird niemand erfahren — die Prozeßöffentlichkeit wurde bei der Erörterung dieser delikaten Frage sorgsam ausgeschlossen. Nur der kurzzeitige DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz versuchte im Zeugenstand, seinen Aufklärer Schütt zu entlasten: die Arbeit der Angeklagten, so Krenz vor Gericht, sei nicht erforderlich gewesen, „um über den Stand westlicher Erkenntnisse über die Lage im Osten zu informieren“.

Für die Anleitung und Steuerung der beiden Spuhler-Brüder soll der HVA-Abteilungsleiter Harry Schütt höchstpersönlich verantwortlich gewesen sein, wofür ihm nun eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren sicher wäre — gäbe es da nicht juristische Bedenken grundsätzlicher Art. Ob DDR-Berufsagenten, die nicht selbst auf bundesdeutschem Territorium agiert haben, überhaupt angeklagt werden können, muß demnächst das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Das Berliner Kammergericht hatte Ende Juli das Pilotverfahren gegen den letzten DDR-Spionagechef Werner Großmann und vier seiner Kollegen ausgesetzt und nach Karsruhe überwiesen. Begründung: Die HVA-Agenten, deren Tätigkeit im übrigen nicht mit dem „verhaßten Inlandsapparat“ der Stasi gleichzusetzen sei, hätten „keine Tätigkeiten entfaltet, die sich von denen anderer Geheimdienste unterscheiden“. Da sich die Verschiedenheit von „offensiver“ und „defensiver Spionage“ rechtlich nicht fassen lasse, folgerte die Kammer, verstoße eine Bestrafung von Ost-Spionen gegen den Gleichheitsgrundsatz. Generalbundesanwalt von Stahl hielt dagegen: eine Gleichstellung von BND- mit HVA-Agenten verbiete sich, da der DDR-Geheimdienst in das „Gesamtgefüge des Stasi-Apparats“ eingebunden gewesen sei.

Amnestie von der Koalition abgelehnt

Wie auch immer: Für die Vergangenheitsbewältigung gibt die Strafverfolgung von Schütt wenig her. Nach innerstaatlichem DDR-Recht konnte West-Spionage genausowenig geahndet werden wie Ost-Spionage nach West-Gesetzen. Läßt sich aber nicht zwischen „guten“ und „bösen“ Agenten trennen, dann sind auch das Verbot rückwirkender Geltung von Gesetzen und das Völkerrecht verletzt, das Spionage nicht ächtet: Nach der Haager Landkriegsordnung dürfen feindliche Agenten nach Kriegsende nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Wegen der unabsehbaren juristischen Streitpunkte hatten Rechtsexperten aus dem Bonner Justiz- und Innenministerium eine Amnestie der Auslandsspione vorgeschlagen; die Koalition wischte die Pläne jedoch vor der Bundestagswahl wieder vom Tisch.

Jetzt gelten erst einmal die Bonner Gesetze. Richter Brießmann, der das Verfahren gegen den Späherführer Schütt entschieden weiterführt, hat mehrfach darauf hingewiesen, daß die „Tätigkeit der Abteilung Aufklärung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten gewertet“ wird. Wie tief die Justiz dabei in einem widersinnigen Schwebezustand steckt, führt der Prozeßalltag vor: So durften Verfassungsschutzpräsident Richard Meier und sein Oberregierungsrat Gerd Nowak als Sachverständige auftreten und die Arbeit des angeklagten Agentenquartetts als „hochkarätig“ bewerten. Und Ex-Spionagechef Werner Großmann konnte selbstbewußt und als vorerst freier Mann vor den Staatsschutzsenat treten, der den Angeklagten Schütt weiterhin in Untersuchungshaft schmoren läßt.

Die Zeugenvernehmung Großmanns indes war nach 10 Minuten beendet — er hatte sich entschlossen, unter Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht „keinerlei Angaben zu machen“. Auch Schütts einstiger Stellvertreter Helmut Schieferdecker gab kein Sterbenswörtchen von sich. Bleibt nur Markus Wolf übrig, um dem Gericht über die Machenschaften seiner ehrenwerten Spione Auskunft zu geben. Doch der hat schon mehrfach jegliche Mitverantwortung für den Repressionsapparat des Stasi-Chefs Erich Mielke von sich gewiesen. Auch Harry Schütt ist überzeugt: „Man kann von uns sagen, was man will — aber wir haben niemand getötet!“