DEBATTE
: Erinnerung statt Rache

■ Ein politisches Tribunal, verbunden mit einer Amnestie, ist bedeutsamer als Schauprozesse wie der gegen die „Mauerschützen“

Das Ressentiment verknüpft die Erinnerung an eine Verletzung mit dem Wunsch, sich dafür zu rächen. Diese Gefühlslage, die jeder kennt, hat die realsozialistische Gesellschaft zu einem einheitlichen Lebensgefühl zwischen Elbe und Ussuri verdichtet. Der zentrale Verteilungsstaat schuf ein System allseitiger persönlicher Abhängigkeit, das dem einzelnen von der Wiege bis zur Bahre demonstrierte, wie ohnmächtig er ist. Jeder Versuch von Eigenständigkeit konnte von Staat und Partei bestraft werden. Der Zusammenbruch dieses Systems setzt Rachegefühle frei, deren Befriedigung möglich scheint. Die ehemals Mächtigen liegen am Boden; doch die Ohnmächtigen sind nicht stärker geworden. Sie verlangen nach einem Dritten, nach einer starken Gewalt, die stellvertretend im Namen des Volkes strafen soll.

In Deutschland scheinen die Bedingungen besonders günstig: Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hat man sich einer rechtsstaatlich legitimierten Justiz unterworfen, die nun urteilen soll. Doch die Gesetze der Bundesrepublik sind nicht gemacht, um politische Frustration der ehemaligen DDR-Bewohner zu kompensieren.

Der Mauerschützenprozeß liefert einen schlechten Vorgeschmack auf künftige Verfahren. Menschen, die als Grenzsoldaten nach den bestehenden Gesetzen handelten, die allen in der DDR bekannt waren, gehören nicht vor ein westdeutsches Gericht. Ihre Taten sind mit dem Untergang der DDR erloschen. Wenn aber — egal, ob an der Mauer oder anderswo — Gefangene, die sich ergeben haben, von Soldaten erschossen werden, erfüllt das einen individuellen Straftatsbestand, der abgeurteilt werden muß.

Die Vorgänge vor dem Berliner Gericht erinnern fatal an eine der abscheulichsten Praktiken der stalinistischen Ära, den Schauprozeß. Politische Interessen werden unter der Maske des Strafrechts verfolgt. Die Medien, die seriösen wie die sensationellen, verbreiten die Ideologie des „die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“, mit der einst die KPD in der Entnazifizierungsphase auf Stimmenfang ging.

Der Volkszorn will noch mehr Schauprozesse

Der Berliner Prozeß wird die Ressentiments nicht befriedigen, sondern er schürt den Volkszorn, der nach noch größeren Schauprozessen verlangt, in denen dann Honecker, Mielke, Wolf und Schalck-Golodkowski angeklagt werden. Vor Prozessen dieser Art muß man sich fürchten, in denen Rache im Schatten des Strafrechts geübt wird.

Das Schicksal der ehemaligen Spitzen der DDR-Gesellschaft ist den meisten Wessis schnurzpiepegal. Wenn erstere Stories mit Sex and Crime liefern können, sind sie Objekte der Unterhaltungsindustrie, nicht der Justiz. Die Medien bedienen sich aber gerne der östlichen Ressentiments, um auf den neuen Märkten Fuß zu fassen. Nicht umsonst spielt im Berliner Prozeß die 'Super Illu‘ eine wichtigere Rolle als die Ankläger. Doch auch die 'FAZ‘ ist sich nicht zu fein mitzumischen. Das östliche Volk, das man anno 1989 als Einheitsprellbock beschmeichelt hat, soll in den Glauben gewiegt werden, es sei jetzt nicht nur ein ohnmächtiges Objekt des ökonomischen und politischen Verwestlichungsprozesses geworden. Alle Bonner Parteien bemühen sich diesmal, an der Spitze des Volkszorns zu marschieren — aus unterschiedlichen Gründen. Am meisten aber beunruhigt die Forderung von ausgewiesenen Bürgerrechtlern, die Ex- DDR-Größen vor Gericht zu stellen. Hier herrscht wohl die Angst vor, nicht noch einmal wie in der Vereinigungsphase den Kontakt zum Volk zu verlieren.

Aufgegriffen aber werden sollte der nahezu utopisch anmutende Vorschlag nach einem politischen Tribunal ohne Sanktionsgewalt, der von Friedrich Schorlemmer gemacht worden ist. Ein Tribunal hätte aber nur einen Sinn, wenn es mit einer Amnestie verknüpft wäre. Individuelle Kapitalverbrechen müßten weiter verfolgt werden. Der Bundestag sollte endlich eine Debatte von ähnlichem Gewicht wie bei der großen Verjährungsdiskussion über den justitiellen Umgang mit der DDR-Vergangenheit ansetzen, die mit einer Amnestie enden könnte. Auf diese Weise würde der Weg frei für ein Tribunal, das ohne den Zwang von Strafe und Verzeihen politisch die Vergangenheit aufarbeiten könnte. Nicht sollten Wessis über die Ossis moralisch zu Gericht sitzen. Das Tribunal müßte die Zweideutigkeit der Geschichte thematisieren, die zu Nationalsozialismus und Kommunismus geführt hat.

Beide Nachkriegsgesellschaften haben in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit versagt. Im Westen wurde sie dem kalten und leeren Vergessen überantwortet, bevor sie Mitte der 60er Jahre als Thema öffentlichen Streits wiederentdeckt wurde. Im Osten wurden die nationalsozialistischen Verbrechen zur moralischen Begründung der kommunistischen Parteidiktatur mißbraucht. Mit der Mauer brach auch das System manipulierter Erinnerung zusammen. Jetzt entdeckten die im Westen, die lange Zeit für einen Schlußstrich plädiert hatten, daß der öffentliche Umgang mit einer verbrecherischen Vergangenheit als moralisches Plus in der Gegenwart verbucht werden kann. Nach der Gnade der späten Geburt absolvierte man nun die Lektionen der Geschichte. Auch so läßt sich ein Schlußstrich ziehen und die moralische Überlegenheit über den Osten beweisen. Wie wenig begriffen worden ist, zeigt sich in der fortexistierenden „Wir“-Mentalität, die das Kollektiv deutsches Volk nach Bedarf be- und entlastet.

Die Schuld an das Individuum binden

Auch im Osten tauchen Zauberformeln im Umgang mit der Geschichte auf. Monika Maron trägt im 'Spiegel‘ noch einmal die abenteuerliche These vor, daß die Toten von Ravensbrück dazu gedient hätten, das Volk in der DDR zu unterjochen. Der Mißbrauch des Gedenkens sollte nicht dafür herhalten, öffentliche Erinnerung überhaupt zu diskreditieren. Der Wunsch, das realsozialistische Übel loszuwerden, beantwortet das Falsche oft mit der Umkehrung des Falschen. So schloß z.B. der Rehabilitationsversuch aller Opfer der stalinistischen Justiz im Baltikum die erwiesenen Kriegsverbrecher mit ein.

Das Vertrackte an der Situation besteht gerade darin, daß es ein eindeutiges Schwarz und Weiß nicht gibt. Heute wird das demokratische Leben in den ehemals realsozialistischen Ländern vergiftet durch umgekehrte, funktionalisierte geschichtliche Lehren, die zur Delegitimierung des jeweiligen Gegners genutzt werden.

Hannah Arendts Überlegungen legen es nahe, den Begriff der Schuld strikt an das Individuum zu binden. Wie es keine Kollektivschuld ganzer Völker geben kann, so auch nicht aller Sozialisten und Kommunisten. Es sind nationale und soziale Traditionen, die einen ungewollt mit der Schuld anderer verknüpfen. Die öffentliche Debatte in Europa könnte eine kritische Wiederaufnahme des Totalitarismustheorems durchaus vertragen. Totalitarismus wirkt nicht wegen der Ähnlichkeiten von Nationalsozialismus und Parteikommunismus beunruhigend, sondern der fließende Übergang von normaler demokratischer Massengesellschaft in totalitäre Herrschaft bedroht jedes Gefühl selbstgerechter Überheblichkeit.

Ein politisches Tribunal könnte ohne falsche Beimischung persönlicher Interessen und moralischer Selbstgerechtigkeit die Schuld differenziert dokumentieren, die einzelne und Gruppen auf sich geladen haben. Als Beweismittel könnten Erfahrungsberichte von Augenzeugen und wissenschaftliche Analysen dienen, die um die schwierig zu klärende Verantwortung des einzelnen unter totalitären Verhältnissen wissen. Nicht Rache, sondern Erinnerung an die Opfer wäre Zweck dieses Verfahrens. Detlev Claussen

Der Autor lebt als Soziologe und Publizist in Frankfurt/Main