„Er war allmächtig, er war der Herrgott“

Erschütternde Zeugenaussagen im Prozeß gegen den SS-Mann Josef Schwammberger/ Der Lagerleiter mordete und folterte willkürlich und bestialisch/ Heute sitzt er teilnahmslos dabei, wenn seine Opfer sich erinnern  ■ Aus Stuttgart Erwin Single

„Er war unser Herr, unser Richter, unser Henker, unser Gott und Teufel. Wir waren vogelfrei, er konnte alles mit uns machen.“ Michael Goldmann-Gilead, heute 66 Jahre alt und Generaldirektor der zionistischen Weltorganisation „Jewish Agency“, blickt immer wieder zur Anklagebank hinüber. Dort sitzt der „Herr Leiter“, wie sie den SS-Oberschaarführer Schwammberger des Zwangsarbeiter-Ghettos A in Przemysl damals nennen mußten.

Detailliert und mit ruhiger Stimme schildert Goldmann-Gilead, der im Lager Transportarbeiten verrichten mußte, wie der SS-Mann im Frühsommer 1943 den damals bekannten Fußballspieler Leo Pater erschoß. Ein warmer Tag sei es gewesen, an dem der junge Mann zu Schwammberger auf den Hof gebracht wurde. Pater, der etwas zu Essen für seine Familie besorgen wollten, hatte sich aus der anderen Lagerhälfte in den Ghettoteil A eingeschmuggelt. Als er sich gegen die Schläge Schwammbergers schützen wollte, zog dieser seine Pistole und schoß ihn nieder. Auch Michael Goldmann-Gileat entging nur knapp dem Tod. Weil er Bücher versteckt hatte, peitschte Schwammberger ihn öffentlich aus. Goldmann brach unter den 80 Schlägen ohnmächtig zusammen. „Es war klar, daß er mich erschlagen wollte“, erzählt der grauhaarige Zeuge, „er hat kein Glück gehabt, nun stehe ich ihm gegenüber.“

Das Gesicht des Täters, der sich als erinnerungsloser Greis hinstellt, bleibt während der Aussagen leer. Der kleingewachsene, schmale Mann, der am äußeren Ende der langen Angklagebank sitzend noch kleiner erscheint, dreht kaum den Kopf, läßt die Sequenzen des Grauens scheinbar unberührt an sich vorbeiziehen. Nur manchmal huscht ein stolzes Lächeln über seinen schmalen Mund, gelegentlich schüttelt er unverständnisvoll sein Haupt. Seit Ende Juni wird dem 79jährigen NS- Henkersknecht vor dem Stuttgarter Landgericht der Prozeß gemacht. Die Anklage wirft ihm vor, als Kommandant der polnischen Zwangsarbeitslager Rozwadow, Przemysl und Mielec mindestens 45 Juden auf zum Teil bestialische Weise umgebracht und an der Ermordung weiterer 3.377 Menschen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein.

Für den Kunstschreiner Moshe Reiter aus dem kanadischen Toronto, der in Przemyswl Schränke für die SS-Soldaten gezimmert hatte, muß der Auftritt vor Gericht ein denkwürdiger Augenblick gewesen sein: Mehr als 45 Jahre hatte er auf diesen Tag gewartet, an dem er seinem Peiniger gegenübertreten und die quälende Erinnerung zu einer eindringlichen Anklage erheben konnte. Sichtlich gerührt bedankt sich der 70jährige bei Justiz und Regierung; er wisse es sehr zu schätzen, daß es 1991 noch Menschen gebe, die nach dem damaligen Geschehen fragten. Im Ghetto verlor Reiter seine Schwester, deren Ehemann und seine zweijährige Nichte. Bei einer sogenannten „Aussiedlungsaktion“ im September 1943 seien die Menschen auf dem Schulhof der Turnhalle zusammengetrieben und niedergemetzelt worden, berichtet Reiter, kleine Kinder habe man „an die Wand geschmettert, weil man keine Kugeln an sie verschwenden wollte“. Die Leichen wurden anschließend zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet und angezündet. Reiter: „Das glühte ein paar Wochen vor sich hin.“ Anderen Gefangene haben ihm später erzählt, Schwammberger sei durch die Reihen der angetretenen Juden gegangen und habe alle erschossen, die sich bewegten.

Wie ein Puzzle fügen sich Aussagen und Protokolle der vergangenen 23 Prozeßtagen zu einer grausamen Lagerdokumentation zusammen; minutiös schildern ein gutes Dutzend Zeugen, wie unter der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gedemütigt, gemartert und gemordet wurde. Sie alle haben Schwammberger schwer belastet. Ob Schwammberger die Massenerschießungen und Deportationen selbst angeordnet oder lediglich Befehle von oben empfangen hat, läßt sich nach den Zeugenaussagen jedoch oft genausowenig zweifelsfrei klären, wie die Frage, ob der kaltblütige Angeklagte selbst, sein Stellvertreter Sturmmann oder das Wachpersonal einzelne Morde begangen haben. Nach fast 50 Jahren sind die Erinnerungen mancher Zeugen zu blaß geworden, um Details gerichtsfest zu machen.

Daß Menschenleben für Schwammberger keinerlei Bedeutung besaßen, steht dennoch außer Betracht. In den Lagern habe er sich als „Herr über Leben und Tod“ aufgespielt, seinen abgerichteten Schäferhund „Prinz“ auf Menschen gehetzt und nach Lust und Laune gemordet, belegen die Zeugenaussagen. „Ich habe unter Schwammbergers Leitung so viele Erschießungen gesehen, daß ein Mensch schon gar keine Rolle mehr spielte“, erzählt stockend ein Zeuge. Die heute 70jährige Sarah Ehrenhalt beispielsweise mußte in Przemysl miterleben, wie ihr Mann erschossen wurde und ihr Kind an Hunger starb. Sie, die seitdem nicht einmal mehr weinen kann, wollte den Holocaust zuerst gar nicht wahrhaben: „Das kann doch nicht von den Deutschen kommen“, habe sie am Anfang geglaubt, „das sind doch kulturell hochstehende Menschen.“ Als im Gefängnishof die Massenerschießungen liefen, hat sie Tag und Nacht Schüsse gehört. Später, sagt sie, habe sich der Geruch der verbrannten Leichen über das Lager gelegt.

Der 63jährige Rabbiner Nathan Brün kam 1942 nach Rozwadow. SS- Schergen hatten vor dem Transport mit dem Stock selektiert. Seine Mutter stieß ihn weg — „da habe ich sie zum letzten Mal gesehen“. Ausgezehrt und unternährt, von Schwammbergers ukrainischen Wachmannschaften ständig drangsaliert, gedemütigt und geschlagen, verrichtete er mit den anderen tagtäglich Frondienste im benachbarten Stahlwerk Stalowa Wola, das die Nazis in „Hermann Göring Werke“ umgetauft hatten. Brün muße miterleben, wie Menschen an Hunger starben, wie Mitinsassen willkürlich „wegen Kleinigkeiten“, Krankheit oder Schwäche erschossen wurden. Das ganze Elend, fragt er das Gericht, „für welchen Sieg, für wen?“. Als er einmal Feuerholz holen sollte, erzählt Brün, stand plötzlich Schwammberger neben ihm und drosch mit einer Knute auf ihn ein. „Wie die Tiere wurden wir mit der Reitpeitsche gejagt“, berichtet auch der Zeuge Henryk Vogler, „wir lebten wie Tiere.“ Der 80jährige polnische Schriftsteller, der seine Lagererfahrungen als Sklavenarbeiter in einer Biographie niederschrieb, entrann nur durch Zufall dem Tod. Ein gemeinsam mit anderen unternommener Fluchtversuch mißglückte, die Gruppe wurde geschnappt und zum Tode verurteilt. Die Flüchtigen hatten bereits ihre eigenen Gräber ausgehoben und sich nackt ausgezogen, als aus dem Stahlwerk Arbeitskräfte angefordert wurden. Abraham Secemsky, ein 67jähriger Kalifornier, der in Roszwadow seinen Vater, einen Bruder und einen Onkel verlor, kann sich noch gut an die tödlichen Morgenappelle erinnern, bei dem auf dem Gefängnishof viele Lagerinsassen ihr Leben lassen mußten. Geschunden und von der Fron körperlich am Ende, habe er gebetet, am nächsten Morgen selbst dabei zu sein. „Für mich war Auschwitz“, fügt er hinzu, „verglichen mit Schwammberger und dem Lager Roszwadow wie der Himmel.“

Gelegentlich kommen Schulklassen ins Gericht, um auf den hinteren Reihen des Zuhörerraums vor Augen geführt zu bekommen, was das war, die unzähligen Arbeits- und Vernichtunglager mit ihren vielen austauschbaren Namen. Auch wenn der polnische Mordfabrikleiter Schwammberger für die Eichmann-Rolle zu klein geraten ist, der Prozeßalltag ist für sie Geschichtsunterricht gegen das Vergessen.

Und die Zeugen? Sie hoffen nicht auf Mitgefühl, sondern auf späte Gerechtigkeit, auf ein Sühneopfer. Vielen verschafft schon der Auftritt vor Gericht Erleichterung. Als Schwammberger vor dem Richtertisch neben einen seiner Lagerinsassen tritt, sagt dieser: „Ich hätte vor 30 Jahren nie gedacht, eines Tages so nah neben Ihnen zu stehen, ohne Angst haben zu müssen, daß Sie mich erschießen.“