Evakuieren, solange das Haus steht

■ Alter U-Bahn-Schacht voll Wasser: Haus droht abzusacken/ Die meisten Bewohner wollen dennoch bleiben/ Durch Gehsteig-Einsturz gingen Abwasserrohre kaputt/ Unglücksursache noch unklar

Charlottenburg. Neue Hiobsbotschaft für die Mieter des Hauses Heerstraße 4, in dessen Bereich der Gehsteig am Freitag nachmittag auf 15 Meter Länge einstürzte: Ihr am Theodor-Heuss-Platz gelegenes Haus gilt seit dem Samstag als nicht mehr standsicher. Weil sich infolge des dadurch verursachten Bruchs zweier Abwasserrohre große Mengen Wasser in einen unter dem Haus entlanglaufenden alten U-Bahn- Schacht ergossen, wollten Fachleute nicht mehr ausschließen, daß sich die Gebäudefundamente senken oder verschieben können. Allen der 41 Mietparteien wurde deshalb noch am Samstag abend gegen 20.30 Uhr nahegelegt, aus Sicherheitsgründen freiwillig ihre Wohnungen zu verlassen.

Durch den Einsturz des Gehsteiges waren drei Passanten verschüttet worden. Bei der dramatischen Rettungsaktion konnte eine bis zum Oberkörper von den Sandmassen begrabene und zusätzlich durch ein Fahrrad eingeklemmte 64jährige Frau erst nach knapp drei Stunden befreit werden, indem Helfer teilweise mit bloßen Händen das Erdreich wegbuddelten.

Obwohl dabei der Boden unterspült wurde, hielt die Charlottenburger Bauaufsicht das Haus aber zunächst weiter für standsicher. Da das Gebäude auf einem rund drei Meter dicken Stahlbeton-Gitterrost, einer Art Brückenbauwerk ruhe, sei die Statik nicht beeinträchtigt, hieß es. Bis dann am frühen Samstag nachmittag die Wasser-Betriebe Alarm schlugen: Man hatte festgestellt, daß aus zwei großen Rohren plötzlich große Mengen Abwasser in den darunterliegenden U-Bahn-Schacht flossen und wiederum Erdmassen mitrissen. Der Austritt der stinkenden Flüssigkeit schien auch nicht so schnell zu stoppen.

Mit als erster guckte sich Bezirks- Baustadtrat Claus Dyckhoff die Bescherung an: Auf der Sohle des Schachts habe das Wasser schätzugsweise »zweieinhalb bis drei Meter hoch« gestanden, sagte Dyckhoff. Ein Prüfstatiker und Fachleute sahen die Gefahr, daß durch den Wasserdruck auf die Hausfundamente in den Wohnungen »Putzteile abplatzen oder Deckenkronleuchter herunterkommen«, und empfahlen die vorsorgliche Evakuierung, so Feuerwehr-Einsatzleiter Peter Proschek.

Charlottenburgs Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel war es dann, die am Samstag gegen 20.30 persönlich an die Wohnungstüren klopfte und den Mietern die Räumung empfahl. Offenbar zogen es aber vor allem die älteren unter den Bewohnern vor, trotz der ausgemalten Gefahr zu bleiben. Begründung einer 70jährigen resoluten Rentnerin: »Ich habe im Krieg in einem zerbombten Haus gewohnt — ich habe keine Angst.«

Bis heute Nachmittag 14 Uhr soll feststehen, ob alle Mieter wieder gefahrlos in ihre Wohnungen zurückkehren können. Man hofft, daß ein Bodengutachter der Wohnungsbaugesellschaft DeGeWo bis dahin sagen kann, ob der Untergrund des Hauses tragfähig genug geblieben ist. Um überhaupt erst einmal herauszubekommen, wie stark die Hausfundamente eigentlich sind und was es mit dem U-Bahn-Schacht auf sich hat, wollen die Beamten der bezirklichen Bauaufsicht auch die Senatsbauarchive durchstöbern. Laut dem Buch »Berliner U-Bahn« (Alba Verlag, Düsseldorf 1989) wurde just unter dem Haus 1939 mit dem Tunnelbau für eine neue Streckenführung der damaligen Linie Ruhleben-Pankow im Bereich des heutigen Theodor-Heuss-Platzes begonnen. Die Nazis wollten mit der neuen Trasse eine von Speer geplante Linie zu einer projektierten »Hochschulstadt« im Westen verbinden.

Die Ursache des Gehsteig-Unglücks ist weiter unklar. Möglicherweise hat das gebrochene Frischwasserrohr die Erde unterspült. Die Feuerwehr hält es für wahrscheinlicher, daß von dem Hauseigentümer begonnene Bauarbeiten in dem ehemaligen U-Bahn-Tunnel unterhalb des Kellergeschosses den Erdrutsch in den Tunnel verursachten. Baustadtrat Dyckhoff zufolge hatte der Eigentümer den schräg unter dem Haus verlaufenden Schacht zum Bau einer Tiefgarage freigelegt. Daß dies zum Absacken des Gehsteiges führte, hielt Feuerwehr-Brandrat Proschek immerhin für »naheliegend«. Thomas Knauf