KOMMENTAR
: Vereinigungskultur

■ Die Bürgerbewegung Bündnis 90 vor einem neuen Anlauf

Der Schnitt ist gemacht. Wofür die Grünen im Westen ein Jahrzehnt brauchten, das hat bei den Bürgerbewegungen im Osten der Einigungsvertrag im Zeitraffer erzwungen: Das Bündnis 90 ist mit seiner Konstituierung nach dem bundesdeutschen Parteiengesetz seinen Fundi-Flügel los. Diejenigen, die Angst vor Parlamentarisierung, klaren Strukturen und abnehmendem Einfluß der Basis haben — vor allem einige der Berliner Gründer des Neuen Forums um Bärbel Bohley und Ingrid Köppe — sind nicht mehr dabei und werden beim anstehenden Zusammenwachsen mit den Grünen keine Rolle mehr spielen.

Die Potsdamer Gründungsversammlung — straff geführt gegenüber dem immer nervenden Selbstdarstellungsbedürfnis einzelner Delegierter — hat einen Vorgeschmack geliefert auf den Spagat, der jetzt auch dem neuen Bündnis 90 bevorsteht. Man will politikfähig sein, ermahnt die Delegierten immer wieder und durchaus erfolgreich zu „Disziplin“, damit auch ja die Satzung fertig wird. Andererseits weigern sich diejenigen, die in den Parlamenten und, wie in Brandenburg, in der Regierung Politik machen wollen, sich zur Partei zu erklären. Politik solle, so fordert Wolfgang Ullmann, sich weder auf die Parlamente noch auf die Straße beschränken. Er will sie in die „Küchen und Wohnzimmer“ zurückholen, in denen die Bürgerbewegungen entstanden sind. Ob aus den in der Illegalität entstandenen Erfahrungen ein vorwärtsweisendes Konzept gebastelt werden kann, mag bezweifelt werden (auch wenn den Grünen eine weniger verbissene Wohnzimmer-Diskussionskultur gut anstände).

Dennoch könnten es die Ostler vom Bündnis 90 schaffen, den Grünen, ihrem unausweichlichen West-Partner, eine Art des Zusammenwachsens aufzuerlegen, die sich von den Altparteien positiv abhebt. Geht es weiter so wie in Potsdam, dann steht ihnen weder die lähmende Ost-West-Aggressivität bevor, von der die CDU geprägt wird, noch die weitgehende Unterordnung der Ostler wie in der SPD.

Selbstbewußt wehren sie sich gegen die Vereinnahmung in Form eines schnellen, „pragmatisch“ genannten Zusammenschlusses. Und wenn sie sich tatsächlich, wie angekündigt, jeder DDR-Nostalgie enthalten und die Debatte um die deutsch-deutsche Vergangenheit, um Verfassungsreform und soziale Grundsicherung gesamtdeutsch führen — dann dürften sie, über ihre absehbare Vereinigung mit den Grünen hinaus, die bundesdeutsche Politiklandschaft bereichert haben. Vielleicht auch die in den Küchen und Wohnzimmern. Michael Rediske