Deutsch- deutsches KoKo-Gate

Am heutigen Mittwoch steht DDR-Goldfinger Alexander Schalck-Golodkowski, Chef des Schieberimperiums „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo), erstmals vor dem Bonner Untersuchungsausschuß. Eine Zusammenfassung der weitreichenden Machenschaften  ■ Von Thomas Scheuer

Das Monster vom Sommerloch Ness konnte heuer getrost auf Tauchstation bleiben. An seiner Stelle hielt das Ungeheuer vom Tegernsee die Medien auf Trab: Kaum ein Tag ohne neue Schlagzeilen und Enthüllungen über die kriminellen Umtriebe des vormaligen SED-Goldfingers Alexander Schalck-Golodkowski. Selbst in ungelösten West-Skandalen wie der U- Boot-Affäre und dem Barschel-Tod machen eifrige Rechercheure plötzlich die Fingerabdrücke des prominenten Republikflüchtlings aus.

Schalck selbst dagegen mimt fettbäckig-entrüstet das dreifache Äffchen: Von all den Schweinereien seines Schieberimperiums „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) hat er nichts gehört und nichts gesehen. Zwar plaudert der Überläufer mittlerweile gegenüber westdeutschen Sicherheitsorganen bereitwillig über die Geschäftspraktiken einstiger Genossen, sich selbst aber redet Schalck dabei die Weste weiß. Veruntreuung von Millionen? Bis auf den letzten Pfennig hat er die ihm anvertraute Staats-Knete zurücküberwiesen. Illegaler Technologietransfer und Embargogeschäfte? Dafür waren andere zuständig, er hatte damit nichts zu tun. Geheimdienstliche Agententätigkeit, Erpressung und Waffenhandel, gar Rauschgiftgeschäfte? Ein Lump, wer ihm solches zutraut.

Als ihn am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz in der Menschenmasse ein TV-Team ausmacht, prabbelt er in die Kamera, was er seither gebetsmühlenartig in den Talk-Shows zum besten geben darf: Nach bestem Wissen und Gewissen habe er stets sein Tagewerk verrichtet. Verbarg sich hinter Honeckers Leibfinanzier in Wirklichkeit ein verkappter Reformer, der nach dem Ende der DDR — wie uns die 'Zeit‘ bereits weiszumachen versuchte — von den bösen Medien zum Unmenschen hochstilisiert wird, weil die nun mal einen Buhmann brauchen? Tatsächlich wurde Schalck in den Wendetagen hinter den Ostberliner Kulissen kurzzeitig als Wirtschaftsminister einer Reformregierung gehandelt. Was ist dieser Schalck nun: ein hochkarätiger Wirtschaftskrimineller oder ein unschuldiges Medienopfer? Das ist die erste Frage, die der Schalck-Untersuchungsausschuß des Bundestages aufzuklären hat.

Schalcks Gründungskapital

„Der bisherige Rahmen meiner Tätigkeit war relativ klein gehalten“, nörgelt der Schreiber in seiner Bilanz „der im Jahre 1965 für die Partei erwirtschafteten Gelder“ und setzt dann an zu „einigen Gedanken über die Fortführung der Arbeiten im Jahre 1966“. Bei dem der taz vorliegenden Schreiben, von einem Herrn Alexander Schalck am 29. Dezember 1965 an das SED-Politbüromitglied Hermann Matern gerichtet, könnte es sich um die Geburtsurkunde des späteren SED-Untergrundimperiums „Kommerzielle Koordinierung“ handeln. Das Papier beweist: Von Anfang an war Schalcks Schattenreich als kriminelle Vereinigung angelegt.

Bei allen Geschäften im innerdeutschen Handel waren seitens der DDR Zwangsvertreter zwischengeschaltet, „um uns (gemeint ist die Partei, d. Red.) einen bestimmten Prozentsatz oder festgelegten Geldbetrag aus ihrem Gewinnanteil zu sichern. Da es sich hier“, so Schalck anno 1965 weiter, „um mehr oder weniger unseriöse Methoden handelt, können solche Funktionen durch den Staatsapparat [...] im Prinzip nicht wahrgenommen werden.“ Schalcks messerscharfe Schlußfolgerung: Die Partei braucht für ihre mafiosen Umtriebe ein eigenes, konspirativ operierendes Firmennetz. Schalck über die Erschließung illegaler Geldquellen: „Dabei haben uns vor allem Vertrauensfirmen des MfS, die Firma Simon und die Firma Gerlach, außerordentlich große Hilfe und Unterstützung gegeben.“ Schalck stellt für 1966 eine Steigerung der Gewinne auf 3 bis 4 Millionen Westmark in Aussicht, „wenn man diese Arbeit hauptamtlich durchführen könnte“ und wenn „Hilfe durch den zuständigen Bereich des MfS erfolgen würde. Diese Hilfe und Unterstützung ist deshalb notwendig, weil eine Reihe von Operationen, wie illegale Warentransporte, Versicherungsbetrug und andere streng geheimzuhaltende Maßnahmen, nur einem außerordentlich kleinen Kreis [...] bekannt sein dürfen und von ihnen durchgeführt werden sollten.“

Schalcks Vorschlag: „Diese dritte Gruppe von Geschäftsoperationen wird durch mich, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Genossen, organisiert.“ 1966, wenige Monate nach dem oben zitierten Brief, wird im Ostberliner Außenhandelsministerium der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) eingerichtet. Chef wird Alexander Schalck. Gleichzeitig mit seiner Berufung zum KoKo-Boß wird er von Erich Mielkes Stasi-Ministerium zum Offizier im besonderen Einsatz (OibE) im Range eines Obersten ernannt. Die steile Karriere des SED-Goldfingers beginnt.

Das KoKo-Firmennetzwerk

Den Grundstock des weitverzweigten KoKo-Firmennetzwerkes bildeten einige Firmen, deren kriminelle Tradition bereits aktenkundig war. In den 50er Jahren, als das Nachkriegs-Berlin das Eldorado der Schieber und Schummler aus ganz Europa war, entzogen sich Ganoven und Schmuggler der Strafverfolgung häufig durch den Rückzug in den Ostsektor der Stadt. Zu ihnen gehörten auch der polnische Schwarzhändler Hersz Libermann alias Michael Wischniewski und der bereits in Frankreich verurteilte Berufsbetrüger Simon Goldenberg. Sie gingen in Ost-Berlin eine Symbiose mit dem dortigen Geheimdienst ein: Ihnen wurde die Gründung sogenannter „Privatfirmen mit Sonderstatus“ gestattet, ein absolutes Privileg im aufkeimenden Arbeiter- und Bauernstaat. Im Gegenzug gingen sie der Stasi, zeitweise auch dem KGB, bei der Beschaffung von Finanzmitteln und Embargogütern zur Hand. Michael Wischniewski gründete die Firma FC Gerlach, Simon Goldenberg ließ die Simon G. Industrievertretungen (später in Camet umbenannt) ins Ostberliner Handelsregister eintragen. Es handelt sich um jene beiden Firmen, die Schalck in seinem Brief von 1965 an Matern als „Vertrauensfirmen des MfS“ bezeichnete, quasi die Ur-Zellen seiner KoKo-Krake.

Damit ist auch die von Beginn an enge Verzahnung zwischen Schalcks KoKo und Erich Mielkes Stasi belegt. Schon als SED-Kreisleiter im Außenhandelsbereich hatte Schalck den kurzen Draht zu Mielkes Spitzeltruppe gepflegt. Insider vermuten, daß Schalck nicht zuletzt aufgrund seiner Stasi-Kontakte 1966 Chef der neugegründeten KoKo wurde. Als solcher war er auch verantwortlich für die wirtschaftliche Anleitung der HVA-Firmen (HVA = Hauptverwaltung Aufklärung/DDR-Auslandsspionage).

Oberstes Ziel der KoKo-Aktivitäten war die Erwirtschaftung von Devisen. Daneben oblag der Sonderbehörde das Sponsoring der Bruderparteien im Westen, die Versorgung der SED-Bonzen mit westlichen Luxusgütern sowie die Beschaffung von Embargowaren (vor allem im Bereich der Mikroelektronik) für die marode DDR-Industrie und von Spionagetechnik für das MfS. Da der DDR jede wirtschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der BRD verboten war, konstruierte Schalck sein Firmengeflecht nach dem „Dreistaaten- Prinzip“: Die KoKo-Mutterfirmen in Ost-Berlin verfügten über Ableger in Westdeutschland, deren wahre Eigentümer sich hinter Holdinggesellschaften in einem Drittland, meist Briefkastenfirmen in Liechtenstein oder der Schweiz, versteckten. Als Geschäftsführer fungierten aus Ost- Berlin ferngesteuerte Parteiveteranen oder Treuhänder. Zuständig für diese „Parteifirmen“ war in der KoKo-Zentrale die langjährige Schalck-Vertraute Waltraud Lisowski. Westliche Geheimdienste beobachteten sie wiederholt auf den Gesellschafterversammlungen westlicher Firmen, etwa in Wien oder Düsseldorf, die mit der DDR offiziell rein gar nichts zu tun haben wollten.

Einen Großteil der heiß begehrten Devisen sackten die Parteifirmen auf eine simple Weise ein: Sie wurden als „Vermittler“ zwangsweise in jedes Auslands-Geschäft der DDR eingeschaltet und sahnten fürs Nichtstun in der Regel 5 Prozent Provision ab. Ohne Schalcks Provisions-Zocker lief nichts im DDR-Busineß. Da Kunden und Lieferanten im Westen bei Geschäften mit DDR-Firmen diesen Betrag in ihre Preise von vorneherein einkalkulierten, bedeutete die Provisions-Masche nichts anderes als eine Umschichtung von Geldern aus dem Wirtschaftskreislauf der DDR auf die Schwarzkonten der SED. Eine weitere Devisenquelle waren die sogenannten „B-Geschäfte“. Dahinter verbirgt sich der über kirchliche Kanäle abgewickelte Häftlingsfreikauf durch die Bundesregierung, von Kritikern schlicht Menschenhandel genannt.

Engagement im Waffenhandel

Ab 1982 engagierten sich Schalcks KoKo-Händler auch verstärkt im internationalen Waffenhandel. Dabei wurden nicht nur verbündete Regierungen und Befreiungsbewegungen mit Schießkram östlicher Produktion beliefert. Vielmehr fungierte die KoKo-Firma IMES über Jahre hinweg für westliche Waffenschieber als Drehscheibe zur Umgehung der dortigen Exportgesetze. Nach seiner Flucht in den Westen im Dezember 1989 beschlagnahmten DDR-Fahnder in Schalcks Keller über 100 Schußwaffen, fast ausnahmslos westlicher Fabrikation. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen Schalck u.a. wegen möglicher Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.

Die „Geschäftstätigkeit“ der KoKo-Firmen entspricht exakt jenem Schema, das Sicherheitspolitiker mit dem kriminalistischen Trendbegriff „organisierte Kriminalität“ umschreiben. KoKo offenbart auch eine Lebenslüge der SED-Nomenklatura: Schon vor einem Vierteljahrhundert, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, setzten die Wirtschaftslenker der DDR weniger auf die vollmundig verkündete „Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsweise“ als vielmehr auf mafiose Beutezüge im NSW, dem „Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsgebiet“. Vielleicht entspricht es gerade dieser Logik, daß die KoKo- Gang im Westen in jenes politische Lager die besten Drähte pflegte, das sich sonst am lautesten über das Reich des Bösen echauffierte. Zum Beispiel in den Dunstkreis um den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß. Während er die Sozialdemokraten für ihre offenen politischen Kontakte mit der SED-Spitze geißelte, kungelte Straußfranzl selbst im Geheimen mit Schalck auf dem privaten Landgut seines Duzfreundes Josef März. Der Rosenheimer Metzgermeister März verdankt seinen rasanten Aufstieg vom kleinen Schlachtviehhändler zum Boß eines internationalen Fressalienkonzerns in knapp zwei Jahrzehnten den nicht immer über jeden Zweifel erhabenen Geschäften mit Schalcks Außenhändlern — und seinem Intimkontakt zu Franz Josef natürlich. Als der Ostberliner März-Repräsentant Simon Goldenberg (jawohl, jener der oben erwähnten „MfS-Vertrauensfirma“) im Sommer 1976, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, mit Sack und Pack ins bayerische Rosenheim übersiedelte, blieb er trotz heftig zeternder Verfassungsschützer völlig unbehelligt und gründete flugs eine neue Firma. Als Firmenadresse gab er, welch Zufall, das Bürohaus der März-Gruppe an. Als Steuerberater ging ihm ein späterer CSU- Staatssekretär zur Hand. Für was oder für wen der Rosenheimer Metzgerclan Millionensummen auf ein Madrider Konto der Stasi-Firma Camet sowie auf ein Zürcher Konto des KoKo-Embargospezialisten Günter Forgber einzahlte, ist eines der vielen Geheimnisse, die der Schalck- Ausschuß vielleicht lüften wird. Womöglich sogar dieses: Wer welche Provisionen beim legendären DDR- Milliardenkredit von 1983 eingestrichen hat. Auch das Milliardending wurde über die Rosenheimer Loge, also das Dreieck Schalck-März- Strauß eingefädelt. Bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte über verdeckte Parteienfinanzierung.

Daß die Grauzone aus Geheimdiensten, Politik und Geschäftelei den Franz Josef Strauß stets magisch anzog, ist ebenso verbürgt wie seine Sympathie für diktatorische Regimes. Ein Topspion der DDR war Strauß natürlich nicht.

Wer deckte Schalck in Bonn?

Politisch weit brisanter aber sind die Verbindungen Schalcks zu Entscheidungsträgern, die heute noch an Bonner Hebeln sitzen. Wie erklärt sich, daß Schalck trotz aller Enthüllungen der letzten Monate (auch wenn nur die Hälfte davon wahr wäre), trotz Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wegen Untreue, Waffen- und Rauschgifthandel sowie weiteren Delikten, und obwohl selbst der Generalbundesanwalt jetzt mit Verspätung gegen ihn wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit ermittelt, offenbar von politischen Kreisen gedeckt wird? Wie konnten enge Schalck-Vertraute noch bis vor wenigen Monaten ungestört Millionen aus dem KoKo-Nachlaß beiseite schaffen? (Einige tun es höchst wahrscheinlich noch heute.) Wieso sträubt sich Bonn derart penetrant gegen jeden Lichtstrahl in der Causa Schalck? Für wen also stellt Schalck eine politische Gefahr dar?

Fest steht: Schalck hat nach seiner Flucht dem Bundesnachrichtendienst einen Kuhhandel vorgeschlagen: Für seine Aussagebereitschaft über DDR-Interna hat er Straffreiheit und falsche Pässe für sich und seine Sigrid gefordert. Regierungsakten beweisen: Schalcks „Wunschliste“ wurde in Bonn auf höchster Ebene beraten, nämlich im Kanzleramt. Fest steht weiter: Schalck hat beim BND gesungen; er hat auch zeitweise falsche Pässe vom BND erhalten. Drängt sich also die Preisfrage auf: Bekam er auch die geforderte Straffreiheit zugesichert? Noch ist nicht geklärt, warum Kanzleramtsminister Stavenhagen im März letzten Jahres die falschen Schalck-Pässe leugnete; ob er — wie er selbst beteuert — vom BND falsch informiert wurde oder ob er schlicht gelogen hat. Da finden sich in den Ausschußunterlagen schon die ersten Indizien, daß zumindest eine „begrenzte Straffreiheit“ für Schalck ernsthaft erwogen wurde. Es geht nicht darum, mit der Forderung „Schalck endlich in den Knast!“ post-antikommunistischer Rachsucht Genüge zu tun. Aber vorläufig gilt der Gleichheitsgrundsatz der Verfassung ja noch. Und es mußten eben Menschen in Deutschland schon wegen geringerer Verbrechen hinter Gitter.

Neben der Frage, was für krumme Dinger Schalck all die Jahre gedreht hat und auf wessen Konten die Millionen versickert sind, steht der Untersuchungsausschuß also vor der viel wichtigeren: Mit welchen westdeutschen Partnern hat der KoKo- Baron seine Geschäfte abgewickelt? Welche westdeutschen Schieber haben bei seinen Waffengeschäften mit abgesahnt? Welche Politiker haben über die unumgänglichen Kontakte mit dem Sonderunterhändler Honeckers hinaus mit dem halbseidenen Stasi-Obristen gekungelt, als sie noch auf die dauerhafte Abschirmung durch die Mauer bauen konnten? Bei der Aufarbeitung von KoKo-Gate, dem deutsch-deutschen Politskandal, geht es schlicht und ergreifend um den Pegelstand des Mafiosen in der Bonner Republik.