Nieder mit dem Dezibel!

Hamburg (dpa/taz) — Professor Gerald Fleischer von der Universität Gießen erforscht die Sinne. Dabei hat er herausgefunden, daß Schall nicht gleich Schall ist. Was Behörden mit oft komplizierten Verfahren messen und berechnen, erfaßt nicht, worauf es ankommt, wenn Menschen sich von Lärm belästigt fühlen.

Wer sich ein Blockhaus an einem Wasserlauf in der Einsamkeit der kanadischen Rocky Mountains mietet, fernab von großen Verkehrswegen, und zum Geräuschpegelmesser statt zur Angel greift, wird, dank des Gebirgsflusses, Meßwerte wie in der Nähe einer deutschen Autobahn finden: 60 bis 70 Dezibel. Dennoch wird er begeistert von der vorgefundenen Ruhe sprechen. Auch in einer als ruhig empfundenen Wohnanlage können die vereinten Anstrengungen der zahlreichen Vögel Meßwerte verursachen, die — kämen sie von einem Industriebetrieb — unverzüglich zum Einschreiten des Gewerbeaufsichtamtes führen würden.

Fleischer wirft in seinem Buch Lärm — der tägliche Terror (Verlag Trias, Stuttgart) sogenannten Sachverständigen und Behörden vor, an der Gesamtproblematik Schall häufig vorbeizugehen, ja teilweise in der praktischen Konsequenz geradezu ruhefeindlich zu wirken. Einige der schlimmsten Lärmbelästigungen werden nämlich mit ihren Normen überhaupt nicht erfaßt. So zum Beispiel hochtouriges Autofahren, etwa in Gestalt des sogenannten Kavalierstarts — „die akustische Spur der Infantilität und der Rücksichtslosigkeit“, wie Fleischer bemerkt. Gerade die primitivsten Naturen schaffen es, bei der Vorbeifahrt 30mal bis 100mal soviel Lärm (Schallenergie) abzustrahlen wie bei ruhiger Fahrt.

Für die häufige Irrelevanz, ja Absurdität von Messungen steht für den Gießener Professor besonders der — wie er formuliert — lausige Mittelungspegel. Angenommen, Sie sitzen an einem lauen Sommerabend mit Bekannten im Garten und unterhalten sich. Für welchen Lärm — wenn's denn sein müßte — würden Sie sich entscheiden: eine Sekunde Preßlufthammer und ansonsten Ruhe oder eine ganze Stunde Rasenmäher? Der Mittelungspegel kann zwischen beiden Situationen nicht unterscheiden, da beide denselben Meßwert liefern.

Von Prof. Manfred Zollner von der Fachhochschule Regensburg wurde ein Gerät entwickelt, das die richtigen menschichen Empfindungsgrößen von Schall nach der Lautheitseinheit Sone berechnen kann.

Im Gegensatz zu Dezibel berücksichtigt Sone die Eigenheiten des menschlichen Gehörs — etwa die, daß komplexe Töne deutlich lauter wahrgenommen werden als einfache oder hohe und tiefe Töne leiser als die mittleren Frequenzen.

Das neue Gerät zeigt also was der Mensch wirklich hört. Es soll besonders bei der Konzeption von schallverursachenden Konsumgütern eingesetzt werden, denn der Lärmpegel ist ein wichtiger Faktor bei der Kaufentscheidung geworden, etwa bei Nadeldruckern, Rasenmähern, Sägen und im Innenraum von Autos. Schallanalysen und Messungen in Sone können den Konstrukteuren dabei helfen, ein dem Produkt entsprechendes Geräusch besser zu gestalten.

Es liegt auf der Hand, daß auch die Lautheitsskala Sone nicht die entscheidende subjektive Lästigkeit von Schall zu erfassen vermag. Denn es ist eben keinesfalls so, daß der Mensch direkt vom Schall belästigt wird.

Im Gegensatz zu dem, was viele Fachleute uns ständig einzureden versuchen, handelt es sich beim belästigenden Lärm letztendlich um kein akustisches Problem, wie Prof. Fleischer in seinem bewertenden Fazit formuliert.

Dementsprechend gehen die auf akustischen Messungen und Rechnungen beruhenden Lösungsansätze am Kern vorbei, sie befassen sich mit den Symptomen, aber nicht mit den Ursachen. Vielmehr zeigt sich ein gesellschaftliches und soziales Problem, wobei der Lärm nur als Bote schlechter Nachrichten fungiert. Es gilt, die Botschaft wahrzunehmen, die uns der Lärm über den Zustand unserer Umwelt übermittelt. „Denn Lärm ist der ausdauerndste Mahner einer geschundenen und häufig menschen- und lebensfeindlichen Umwelt!“