Notenlinien, Maschendrahtzäune

Zur Agnes-Martin-Ausstellung in Münster  ■ Von Stefan Koldehoff

Daß die Ausstellung nicht unbedingt das ganz breite Publikum ansprechen würde, muß den Verantwortlichen im Westfälischen Landesmuseum in Münster schon vor deren Beginn klargewesen sein: Gerade einmal zwei einsame Informationsblätter finden sich im Zettelkasten aus Plexiglas am Eingang zu den Ausstellungssälen im Obergeschoß. Und auch sie beschränken sich darauf, auf zwei bedruckten Seiten biographische Informationen und Eigenzitate der Künstlerin wiederzugeben, wie sie in jedem Kunstlexikon zu finden wären. Kaum ein Wort zum Hintergrund der Ausstellung, nichts über die Bilder.

Die braucht es auch nicht, denn die Bilder von Agnes Martin sind nicht eigentlich schwierig zu verstehen — auf den ersten Blick jedenfalls. Zeit ihres bislang 79jährigen Lebens hat die Künstlerin, nach kurzen Ausflügen in den Realismus und den Surrealismus, kaum etwas anderes gemalt als Raster. Raster in allen Größen und Formen, Raster in Tusche und in Graphit. Raster vor hellem oder vor grauem, in jedem Fall aber vor monochromem Hintergrund. Einheitliche 183 mal 183 Zentimeter messen ihre Leinwandquadrate. Was die in Kanada geborene Malerin, die als die Grande Dame des abstrakten Realismus gilt, auf ihnen abbildete, erinnert mal an Rechenpapier, mal an Notenlinien, dann wieder an Maschendrahtzäune. Immer wieder unterteilte Agnes Martin seit den 60er Jahren ihren Malgrund mit horizontalen und senkrechten Linien in gleich große Felder, Quadrate oder Rechtecke. Diese Rasterflächen reichen bis an den Rand der Leinwand, oder sie enden kurz davor und lassen die Gittergebilde mit ihren untereinander durchaus variierten Kästchenkonstruktionen schwerelos in der Mitte des Bildes stehen. Die berühmten Schwebenden Körper des Malerkollegen Mark Rothko, mit dem Agnes Martin neben Kelly, Indiana, Rosenquist und Youngerman seit den 60ern befreundet war, mögen hier Pate gestanden haben. Und wie Rothko lehnt auch Agnes Martin den Gebrauch eines Lineals oder einer Schablone ab und zeichnet ihre pedantischen Rastermuster aus der freien Hand.

Irgendwann muß dann aber das Ereignis im Leben von Agnes Martin stattgefunden haben, das zum radikalen Einschnitt in ihren künstlerischen Ausdrucksformen führte: Ab 1974 fehlt in ihrem Werk plötzlich die Senkrechte, liegen horizontale Linien und Farbstreifen auf einmal ganz unvermittelt und allein gelassen übereinander — kein senkrechtes Ordnungsprinzip ist mehr auszumachen. 1967 nämlich, so verkündet der viersprachige und natürlich ebenfalls quadratische Ausstellungskatalog, zog sich die Künstlerin aus dem hektischen Kulturbetrieb der Metropole New York zurück in ein indianisches Lehmhaus in der Wüste von New Mexico, „um nachzudenken“. Hier in der selbstgewählten Einsiedelei entstand dann jene neue Serie von Werken, die die Öffentlichkeit erstmals 1974 zu sehen bekam. Zu ihr gehören auch die späten Pflanzenbilder von 1985: 65 bläulich-grüne Pastellfarbbalken vor grüngelbem Hintergrund, die durch ebensobreite Zwischenräume voneinander getrennt werden, tragen den Titel Lemon Tree. 17 rotbraun schimmernde Doppelfarbbahnen auf zartrosa eingefärbter Leinwand heißen Desert Flowers.

Dennoch hat Agnes Martin — gegen das, was in ihrem Werk am offensichtlichsten ist — darauf bestanden, die Bilder hätten mit der Erfahrung der Landschaft nichts zu tun. Es ist dieser absolute Anspruch des abstrakten Expressionismus, der so schwer zu vermitteln ist, und die eher starren und dogmatisch wirkenden Arbeiten von Agnes Martin sind vielleicht nicht besonders geeignet, mehr oder weniger voreingenommene Betrachter zu überwältigen. Zugang bietet natürlich der Katalog, der allerdings durch die Beigabe einer kleinen Graphikedition auf Reispapier extrem teurer geworden ist. In den großen weißgestrichenen Ausstellungsräumen sind die Besucher mit den Raster- und Balkenkompositionen allein gelassen.

Bösen Willen kann dabei den AusstellungsmacherInnen in Amsterdam, wo die Werke neben Wiesbaden bereits zu sehen waren, und ihren KollegInnen in Münster niemand unterstellen — überzeugende Ideen für innovative Ausstellungskonzepte allerdings auch nicht.

Agnes Martin — Gemälde und Zeichnungen . Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, noch bis zum 6. Oktober 1991, dienstags bis sonntags 10 bis 18Uhr, Eintritt frei; Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, 24. Oktober 1991 bis 6.Januar 1992; Katalog mit Edition 80DM