Alessandro Moreschi, der "Engel von Rom"

■ Pionieren der Grammophonkunst ist es zu verdanken, daß die einzigartige Sangeskunst der letzten Kastraten am Hofe des Papstes für die Nachwelt festgehalten wurde,

Pionieren der Grammophonkunst ist es zu verdanken, daß die einzigartige Sangeskunst der letzten Kastraten am Hofe des Papstes für die Nachwelt festgehalten wurde.

VON JÜRGEN SORGES

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viva il coltello!“ Lang lebe das Messer! Mit diesem inbrünstigen Schrei forderten Roms enthusiastisch applaudierenden Zuhörer noch im Jahre 1913 Zugaben vom letzten großen Star einer im Untergang befindlichen Musikszene. Denn mit Professore Moreschi, dem Leiter des privaten Männerchores der vatikanischen Sixtinischen Kapelle, stand der letzte bedeutende Vertreter der Sangeszunft der Kastraten auf der römischen Kulturbühne.

Die hatte in Italien eine lange Tradition: Der Gregorianische Kalender schrieb das Jahr 1640, als Papst Sixtus V. sich folgenschwer an einen biblischen Rat des Apostels Paulus erinnerte: „Laßt Frauen in den Kirchen schweigen!“

Fortan war es nurmehr männlichen Stimmen erlaubt, von den Choremporen der Gotteshäuser das Hohe Lied des Herrn zu preisen. Es ergab sich indes ein Problem: Knaben, die die Sopran- und Altpartien der sich rasch entwickelnden neuen Musikkompositionen übernehmen sollten, entzogen sich allzugern dem strengen, disziplinierenden Diktat der Kirchenoberen. Noch dazu fehlte ihnen das Stimmvolumen, um die schwierigen Partituren perfekt zu beherrschen. Auch die eilends als Ersatz herbeigerufenen Falsett-Tenöre spanischer Provenienz ruinierten zu rasch ihre sensiblen Stimmbänder.

Nach dem blutigen Schnitt die Ausbildung

In ihrer Not erinnerten sich die Domherren der großen Kathedralen innerhalb des Kirchenstaates, später ganz Italiens, an die im Frühmittelalter weitverbreitete Tradition des Eunuchengesanges. Zwar erlaubten christliche Heilslehre ebenso wie der Ethikkanon des katholischen Katechismus zu keiner Zeit die „Selbstverstümmelung“ gläubiger Mitmenschen, doch drückten Kirchenlehrer und Päpste angesichts der drohenden Stille in den päpstlichen Gemächern beide Augen zu. Das Paulus-Dilemma fand eine stillschweigende Lösung.

Jährlich stellten sich mehr als 4.000 Knaben — zumeist aus ärmeren römischen Familien — im zarten Alter von zehn Jahren dem geschliffenen Wundermesser, um nach vollbrachtem blutigem Schnitt eine achtjährige Ausbildung zu durchlaufen. Nur einige wenige von ihnen stiegen allerdings zu solchem Ruhm auf, der diese von den Eltern herbeigesehnte „Investition“ auch nur halbwegs gerechtfertigt hätte. So wurden im höchsten Karriereziel, dem Sängerhimmel der vatikanischen Kapelle, deren Chor aus 32 Mitgliedern bestand, ganze 16 Kastraten benötigt.

Der Rest der entmannten Sängerschaft mußte mit minderdotierten Posten in der Provinz Vorlieb nehmen oder landete in der Gosse. Wer den „Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: „Ille cum, tu sine“ — „Er mit, du ohne“! Römischer und besonders neapolitanischer, im besten Küchenlatein fabrizierter Witz kannte schon damals kein Pardon.

Dennoch: In der Blütezeit der Kastraten, Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts, erreichten die vatikanischen Sänger absoluten Weltruhm, der allenfalls mit dem der Beatles in diesem Jahrhundert zu vergleichen ist. Topstars wie Nicolino, Carestini oder Senesino erhielten Einladungen aus ganz Europa, um ihre Sangeskunst vorzutragen. Monteverdi, Mozart und Meyerbeer, Händel, Rossini und auch noch Christof Willibald Gluck schrieben für sie, deren Stimmvolumen das weiblicher Sängerinnen weit in den Schatten stellte: es reichte vom tiefen C unterhalb des Sopranparts bis zum legendären hohen C einer Callas. Zehn und mehr Töne in der Oktavleiter zu überspringen war für viele, besonders für Alessandro Moreschi, kein besonderes Kunststück.

Am Ende der Laufbahn: tiefste Depressionen

Dem absoluten Genius der Zunft aber, Farinelli, der sein Schicksal als eine Art höhere, mythisch verankerte Berufung verstand, lag seinerzeit sogar halb Europa zu Füßen. Früh geadelt und auf Rosen gebettet, schien er, dessen Sprechstimme allen rasch geäußerten Vorurteilen zum Trotz keineswegs glucksig oder fiepsig war, sondern in hoher Tenorlage nach Tönen suchte, einem beschaulichen Lebensabend entgegenzusehen. Die kastrierten Sangesbrüder erreichten im Schnitt ein weit höheres Lebensalter als die meisten ihrer Zeitgenossen. Doch das Schicksal in Gestalt des zur Melancholie neigenden Habsburgerkönigs Philipp V. von Spanien wollte es anders.

Farinelli mußte wie die meisten seiner alternden Kollegen seinem physischen „Anderssein“ psychologisch Tribut zollen: Kein Wunder, daß der Musikheros in tiefste Depression verfiel: er hatte — Schreckensvision aller Musiker — dem absoluten Potentaten über zehn Jahre lang allabendlich die gleichen vier Arien vorzusingen.

Solche Probleme hatte der 1858 geborene Alessandro Moreschi zwar nicht mehr zu gewärtigen. Doch der Einmarsch der italienischen Truppen 1870 in die römische Hauptstadt sowie das erste vatikanische Reformkonzil beendeten mit dem Kirchenstaat auch die 250 Jahre lange Tradition der Sängerkastration per Federstrich.

Der junge Knabe hatte sich bereits in der Ausbildung beim letzten Großen der Kastratenzunft, Domenico Mustafa (1829-1912), befunden. Von diesem „erbte“ er kurz vor der Jahrhundertwende das Amt des „Direttore perpetuale del choro pontificale“. Sein Gönner, Papst Leo XIII., hatte ihn auf diesen „stimmlosen“ Posten verschoben, um den vom Schicksal gebeutelten Enddreißiger nicht vollends auf die Straße setzen zu müssen.

So war denn, wenn auch nur in den privaten päpstlichen Gemächern, bis zum Tode des populären Kirchenfürsten noch hin und wieder Mozarts Ave verum Corpus oder Rossinis Cruzifixus zu vernehmen. Englischen Pionieren der Grammophonkunst ist es zu verdanken, daß 1902 und 1904 Plattenaufnahmen zustande kamen, die diese unvergleichliche Sangeskunst der letzten Kastraten für die Nachwelt bis heute festhielten.

Amerikanische Tontechniker haben das einzigartige Tondokument gefiltert, so daß Moreschi, den seine männlichen wie weiblichen Bewunderer nur „Angelo di Roma“, Engel von Rom, nannten, bis heute auf Schallplatte und nun auch auf CD (Pearl Records, Opal 823) zu hören ist. Die ebenso einmalige Aufnahme der Stimme des ein Ave Maria säuselnden 93jährigen Leo XIII., die einem Herrn Bettini mittels Zylindern im Jahre 1903 gelang, gibt es gratis dazu.

Heutige Falsett-Tenöre, zum Beispiel der allzufrüh an Aids verstorbene Klaus Nomi oder ein Berliner Kneipenoriginal, die „Nachtigall von Ramersdorf“ (ein Ex-Star in Rosa von Praunheims Filmen, der sangeswütig nächtens durch die Szenekneipen stromert), setzen auf ihre Weise diese Tradition fort.