EINE LAST-MINUTE-REISE

■ In Moskau sind nicht nur die Stunden der Lenin-Denkmäler gezählt

In Moskau sind nicht nur die Stunden

der Lenin-Denkmäler gezählt.

VonAndréBeck

Besuchen Sie die Sowjetunion, solange es sie noch gibt. Ohne es zu wollen, läßt sich der Tourist auf eine Last-Minute-Reise ein, die vergeblich ihresgleichen in den Katalogen der Travel-Agenturen sucht. Vor den Augen des Besuchers zerfällt heuer im rasanten Tempo ein Land, das — voll von Superlativen, Kontrasten und Widersprüchen — jedes beliebige Reiseziel in den Schatten stellt. Zwei Flugstunden oder eine 34stündige Bahnfahrt, und Sie befinden sich in einer anderen Welt. Versprochen.

„Wohin wollen Sie? Sie wollen ein Taxi? Sie sind Ausländer? Was zahlen Sie? DM? Dollar? Ach, Sie sind langweilig mit Ihren Rubeln.“ Die ehedem gleich am Moskauer Airport „Scheremetjewo II“ gelegenen Bushaltestellen hat die Taxi-Mafia um 200 Meter weiter auf einen Vorplatz verdrängt.

Kein fremdländisch dreinschauender Tourist (verstellen lohnt sich nicht), der in Moskau eintrudelt, entgeht den Habichtblicken der Ritter des defizitären Fortbewegungsmittels. Wer angesprochen wird, ja nicht auf die Masche reinfallen! Selbst wenn der Obulus entrichtet ist und in das betreffende Taxi eingestiegen wird, ist nicht raus, daß mensch nicht ausgeraubt an irgendeiner Abfahrt abgesetzt wird. Um sich diesem Risiko nicht auszusetzen, lohnt es sich, im Flughafen mit etwas Geduld einen Leihwagen zu mieten. Wer individuell nach Moskau reist und keine Lust auf böse Überraschungen hat und für Dienstleistungen nicht tiefer als nötig in den Geldbeutel greifen möchte, muß sich eben mit der anderen, abenteuerlichen Variante, den maroden öffentlichen Verkehrsmitteln, zufriedengeben.

Von Scheremetjewo aus fährt der 551er Bus bis zur Metrostation „Retschnoi Woksal“, Moskaus größtem Passagierhafen. (Von hier laufen Schiffe über den Moskwa- Wolga-Kanal bis nach Astrachan oder Archangelsk aus.) In den Hauptverkehrszeiten fegen die vollgepfropften Metro-Züge im 50-Sekunden-Takt durch das unterirdische Labyrinth. Wer Moskau länger als nur ein paar Tage besucht und auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen muß, kaufe sich ein „Projesdnoi-Billett“, sozusagen die „Monats-Umweltkarte“ für alle Transportmittel. Kostenpunkt: gegenwärtig 18 Rubel (eine Mark). Der gegenwärtige Kurs liegt in Moskau bei 100 DM zu 1.900 Rubel. Eine utopische Summe. (Das sowjetische Lebensminimum wird gegenwärtig mit rund 360 Rubeln monatlich angesetzt.)

Unweit der Metrostation Krasopresnenskaja findet man eine der renommiertesten Adressen für Touristen, das Internationale Handelszentrum: Plastikbäume, gedämpfte Nachtigallgesänge aus der Konserve, schöne Frauen, Innenlift, Prostitution.

Der Wallfahrtsort vor dem Parlament

Gleich eine Trolleystation weiter steht am Moskwaufer das russische Parlamentsgebäude, das „Weiße Haus“. Im Zuge der Ereignisse vom 19. bis zum 21. August ist das nachts hell erleuchtete Gebäude zu einem Wallfahrtsort geworden. Neben Jelzin-Plaketten und Stirnbändern in Weiß-Blau-Rot bieten Händler neue russische Pässe an, wenn auch freilich nur die Hüllen mit dem dreiköpfigen Adler als Wappentier. Es sollen schon Sammler aus den Staaten gesichtet worden sein, die die Buswracks der Barrikaden aufgekauft haben.

Drei Wochen nach dem geplanten Sturm auf das russische Parlament stehen dort immer noch Zelte, erproben sich junge Leute in der „Verteidigung“, bauen Barrikaden und patrouillieren mit wichtiger Miene im Terrain. Alle Ehre den „Verteidigern der Demokratie“. Mittlerweile haben auch sie „ihren“ eigenen Klub in der Parteienlandschaft registrieren lassen, der nunmehr „zum Sturm auf die Ökonomie, die Ideologie und die überkommene Moral“ bläst, „die uns so lange unterdrückt haben“. Daß sich die „Demokraten“ und Jünger Jelzins dabei in Charisma, Sprache und Habitus wenig von den destruktiven Methoden der Bolschewisten unterscheiden, scheint ihnen nicht gewahr zu sein. Das sie ergriffene Staatsstreich-Syndrom erinnert an einen sinngemäßen Ausspruch Turgenjews, wonach die Menschen alles verstehen, den Lauf der Sterne und die tiefsten Meeresgründe, nur daß sich einer die Nase anders schneuzt, darüber kommen sie nicht hinweg. Und so kommt denn jeder Kritiker der „Demokratie“ einem „Volksfeind“ und „Verräter“ gleich.

Doch was wäre Moskau ohne seinen Roten Platz, den Kreml und die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale, übrigens jeder ein schiefer Turm zu Moskau. Wenn es nach Stalin gegangen wäre, würde auch diese Kirche nicht mehr stehen. Denn wie konnte es sein, daß ein sakraler Bau den ruhmreichen Streitkräften beim Abmarsch vom Roten Platz im Weg steht und die Rote Armee links und rechts dran vorbeimarschieren muß?

In diesem Jahr muß sich der Besucher, der im November in die russische Hauptstadt kommt, nun leider damit abfinden, keine militärische Parade anläßlich der Revolutionsfeierlichkeiten zu erleben. Dafür gibt es fast täglich Kundgebungen von sich neu formierenden Vereinen, Parteien und Gruppierungen, die von „Pamjat“ bis zu den Anarchisten das gesamte politische Spektrum umfassen.

Seitdem Rust im Frühjahr 1986 einen weiteren Flughafen direkt vor Lenins Mausoleum eröffnen wollte, geschieht hier Ungeheures: Auf dem heiligen Grund wird gehungert, bauen Obdachlose ihre Blechhütten, skandieren Demonstranten: „Nieder mit der KPdSU“ (die es tatsächlich nicht mehr gibt, dafür gibt es jetzt die Demokratische Partei der Kommunisten Rußlands, die Bolschewisten wollen zum Jahresende ihre eigene Partei wiedergründen etc.), „Selbstauflösung“ (des Obersten Sowjet der UdSSR, den gibt es auch nicht mehr). Deputierte laufen durch ein dichtes Spalier Spießruten. Im Kreml selbst residiert noch Gorbatschow, der immer mehr in den Schatten des russischen Präsidenten Jelzin gerät. Ungeachtet dessen erfolgt noch pünktlich jede Stunde die Wachablösung vor der angelehnten Tür zu Lenins vorletzter Ruhestätte. Indes finden sich nunmehr in Sankt Petersburg Leute, die partout Wladimir Iljitsch nicht auf dem Boden ihrer Stadt begraben sehen wollen, was sein eigentlich letzter Wille war. Auch das Historische und Lenin-Museum am anderen Ende vom Roten Platz soll alsbald seine Bestimmung verlieren. Im ehemaligen KPdSU-Hauptquartier sitzt bereits das russische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, das RGW-Gebäude wird Ende September die Moskauer Munizipalität beziehen.

Rasante Veränderungen, hartnäckige Gewohnheiten

All das, was es gegenwärtig nicht in den Geschäften zu kaufen gibt, zeigt die „Allunionsausstellung“, zu erreichen über die gleichnamige Metrostation „WDNCH“ (BDHX). Das daneben befindliche Hotel „Kosmos“ zählt neben dem Olympischen Dorf, den Sportzentren in Luschniki und am Prospekt Mira sowie der Regattastrecke in Krylatskoje zu einem der Prestigeobjekte von Olympia 1980. Das unter schwedischer Regie erbaute Kosmos hat bereits eine graue Patina aufgelegt. Ähnlich wie in allen anderen Hotels besteht hier die Möglichkeit, verschiedene Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen wie Stadtrundfahrten, Ausflüge in die nähere Umgebung, nach Wladimir, Jaroslawl, Susdal, Sagorsk, um nur einige Orte des „Goldenen Rings“ um Moskau zu nennen, die einen Besuch lohnen, Museumsführungen, Ticket-Vorbestellungen für Theater, Konzert und Kino, Sauna- und Schwimmbadbesuch etc.

So rasant die Veränderungen, so hartnäckig halten sich Gewohnheiten. Eine Mutter erklärt auf dem Roten Platz ihrem Kind: „Sieh, das da oben ist die zaristische (russische, weiß-blau-rot, A.B.) Flagge und daneben, das ist unsere, die sowjetische.“ Das könnte auch in einer Fibel für Schulanfänger in Rußland stehen, wo im Vorwort noch heute zu lesen ist: „Ihr lernt nun die bedeutsamsten Wörter kennen, die es gibt: Mama, Heimat und Lenin.“ Das ist schon ein großer Fortschritt, vor einem Jahr war es noch andersherum. Nichtsdestotrotz spielt der Vater immer noch keine Rolle, auch wenn das russische Fernsehen versprach, neue, „deideologisierte“ Lehrbücher würden bereits in Druck gehen.

Ein anderer touristischer Anziehungspunkt ist der Alte Arbat. Er beginnt am Restaurant „Praga“ Ecke Kalininskij Prospekt. Bereits schon beim Heraustreten aus der Unterführung an der Metrostation Kalininskaja wird der Tourist vom Klischee eingeholt und förmlich von Glücksspielangeboten, bemalten Matrijoschkas — der neueste Hit ist neben Gorbatschow Jelzin —, mehr schlechtem als rechtem Dixieland, mitunter ausgesprochen guter russischer Folklore, Wundertätern, Porträtisten, Wahrsagern und Flötenklängen empfangen. Das geht zwei Kilometer so weiter. Zwischen Wachtangow-Theater und dem einzigen Straßencafé steht die Moskauer Mauer für Victor Zoi, Metallist und Sänger bei der Rockgruppe „Kino“, der unter mysteriösen Umständen ums Leben kam und in der Sojus ziemlich verehrt wird.

Das Straßentheater endet mit dem Gebäude des Außenministeriums, eines der sieben Zuckerbäckerstil- Hochhäuser, die in Moskau alles überragen (das achte steht übrigens in Warschau).

Was der Besucher seit neuestem nicht mehr sehen kann, sind einige denkwürdige Bronzestatuen, die im Verlauf der „August-Revolution“ von ihren Sockeln gehoben wurden. Der einsame Tschekist Dzerschinski, im Rücken das verhaßte KGB-Headquarter in der Lubljanka, wies mit einem Arm bedeutungsschwanger in Richtung Kreml: „Was die hinter mir treiben, weiß ich halbwegs, aber die da vorne...“; ebenso verschwanden Berufsrevolutionär Swerdlow und Ex-Premierminister Kalinin unrühmlich vom Straßenbild.

Jelzin ließ den aufgebrachten Mob gewähren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die ungezählten Lenin-Denkmäler abgerissen werden. Eigentlich schade, selbst der Lenin in Ost-Berlin steht noch.

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Kontaktadresse: Lernidee-Reisen, Dudenstraße 78, 1 Berlin 30.