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Alles rausknallen, was überhaupt los ist

■ Marianne Faithful singt Kurt Weills »Die sieben Todsünden«

Bei einem Straßenfest in West- Berlin schmettert voll Wärme und Inbrunst ein Tenor seine schwülstigen Lieder vor einem Orchester mit Streichern und Bläsern, und alle stecken sie, weil sie da reingehören, in braunen Uniformen der Roten Armee. Vorm Tempodrom steht — aufgebockt — ein luxuriös aussehendes Wohnmobil, so lang wie eine Straßenbahn, und oben auf dem Dach saust vor sich hin — ein Windrad.

Es gibt merkwürdige Konstellationen von Dingen, die sind. Marianne Faithful ist auch so eine Konstellation.

Ihre Vita ist eine Mischung aus Fellini und Kubrick. Vor 27 Jahren kreiselte sie mal eine Saison lang im Zentrum des Sternenstaubs: die Tochter einer Baronesse und eines Universitätsprofessors, die man hatte erziehen lassen — in einer Klosterschule für höhere Töchter.

Die junge Miss Faithful, 16 oder 17 damals, tauchte weg — hinein in die Bohème der frühen Sechziger in London: mit Model-Figur, superlangen blonden Haaren und knalligem Geschmack für schrille Klamotten... Und: Sie hatte sich vorgenommen, einen Rolling Stone zum Freund zu haben. Es machte der Klosterschülerin Spaß, sich hinzustellen und der Öffentlichkeit zu erzählen: »Ich habe mit dreien von den Stones geschlafen, und ich habe mich für den Sänger entschieden.«

Marianne ließ sich von Jaggers (zumindest angeblicher) Lüsternheit einfangen: Die beiden trieben es in der Umkleidekabine eines exklusiven Modegeschäfts, heißt es, und eine Razzia soll sie beim experimentieren mit Marsriegeln gestört haben.

»Mick hatte mich aufgespießt wie ein Insekt«, sagte Marianne Faithful später dazu, »und sah zu, wie ich um mich schlug und mich wand — das faszinierte ihn als Künstler.«

Es faszinierte ihn solange, bis ihre Tränen eines Tages nicht mehr vorbeigingen, bis auch die Nadel und der Suff ihr nicht mehr halfen, bis sie anfing, in Spiegelglasscherben zu rennen und schließlich dann in Sidney 150 Sodium-Amytal-Tabletten schluckte...

Mick nahm ihren Umzug vom Hotel zur Intensivstation zum Anlaß, Schluß zu machen. Denn wenn ein Rock-Star eins nicht gebrauchen kann, dann ist das ein Klotz am bein, der sich auch noch andauernd umbringen will.

(»Ich hasse es, über mein Innenleben zu reden. Aber ich habe schon ziemlich spirituell angefangen, als ich jung war. Ich meine — ich wußte nicht, daß es das ist: Es brannte einfach irgendwas in mir, und deshalb mußte ich das alles tun.«)

Dann — kurz nach Mitte der Sechziger — begannen die Krisen, die Süchte, die Depressionen und die Dunkelheit.

Marianne Faithful brauchte zehn Jahre, bis sie, Ende der Siebziger, wieder einen Schritt auf den Tanzboden der Popmusik machte. Heute, zehn Jahre später, ist Marianne Faithful eine stolze, ruhige, reife Frau: merkwürdig pendelnd zwischen Wachheit und Träumen.

Sie geht auf, wie die Türen eines Vertikos: plötzlich, wenn sie bei der Pressekonferenz etwas anspricht, geht innen in ihr ein Leuchten an, die Türen klappen auf, und heraus sprudelt eine ganz merkwürdige und eigenartige Mischung: ein bißchen späte Jeanne Moreau, ein bißchen Teenie und ein bißchen Dame. Hinreißend ist tatsächlich das richtige Wort!

Und auch das ist überraschend: Marianne Faithful, die Tochter aus besserem Hause, sagt, sie würde gern studieren. Ein Grund ist der, daß sie sich gern mal Shakespeare widmen würde. Der andere Grund ist, daß sie, was den Musikmarkt betrifft, auf einem in sich geschlossenen Sondergleis fährt: Marianne Faithful ist Marianne Faithful ist Marianne Faithful. Sie würde gern studieren, damit die Leute sie ernst nehmen.

»Wenn ich das intellektualisieren könnte, würde das mein Leben ein ganzes Stück leichter machen. — Die Leute wollen ja alle Zeugnisse haben; sie wollen wissen, daß du gelitten hast; sie wollen Schmerz sehen. Und sie können nicht glauben, daß ich das hier kann, weil — naja, ich hab' halt nicht die richtigen Qualifikationen. Ich bin Popsängerin.« Und sie lacht laut und kollernd in sich hinein mit dieser Stimme, die beim Singen immer klingt, als würde ihr jemand eine Rasierklinge auf die Stimmbänder setzen und sie erpressen.

Das sind so Überlegungen. Aber eigentlich ist Marianne Faithful heute darüber weg. Sie lebt, sagt sie, ganz ruhig — in einem wunderbaren Haus, allein (betont sie) und sie hat nette Freunde und führt ein nettes Leben. Sagt sie. Sie interessiert sich für tibetischen Buddhismus — nur so ein bißchen — morgens richtig atmen, und dann abheben in den Tag hinein...

Und sie singt Brecht. Die Sieben Todsünden. »Als ich das zum ersten Mal gehört habe, wußte ich: Das ist exakt das, was mich interessiert. Gut und Böse — und das ganze Drumherum: Dunkelheit und Licht. Das hat mich mein Leben lang am meisten beschäftigt.« Ganz große Augen voller Freude und Wissen. Keine Spinnerei: Space.

»Brecht schrieb über die Sache, die ich fühle und verstehe, und zwar so, wie ich sie gern sagen würde: Aber ich kann's nicht, darum singe ich diese Sachen.«

Diese Sachen singt sie heute und morgen in der Freien Volksbühne: Die Sieben Todsünden, englisch, und ein Song französisch. Für Deutsch sei sie auf der Bühne viel zu aufgeregt. »Ich versuche, alles an Kraft und Charisma zu benutzen, das ich als Marianne Faithful habe, um rauszuknallen, was überhaupt los ist.«

Und das knallt sie dann vor einem kompletten Orchester raus — den Nordostdeutschen Philharmonikern. Die sind ein gestandenes Orchester aus dem DDR-Fundus, nur halt mit Sitz in Prenzlau. Eine Platte soll es davon übrigens später auch mal geben, aber vorher will die Plattenfirma ein Popalbum haben... Laf Überland

Am 30.9. und 1.10., 20 Uhr, in der Freien Volksbühne.

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