Der David der unbeschränkten Leiber

Veysal Bugur und Birgit Tönnies holten sich bei den Internationalen Deutschen Karatemeisterschaften mit 450 TeilnehmerInnen aus 17 Nationen die Titel in der Allkategorie  ■ Aus Berlin Katrin Schröder

Nach unzähligen Verbeugungen geht es los. „Hajime“ rufen die Kampfrichter und die TeilnehmerInnen der internationalen Deutschen Karatemeisterschaften auf den acht Kampfflächen verstehen sehr wohl: „Fangt an!“ Was sich dann auf den quadratischen Kampfflächen abspielt, ist für die Laien unter den Zuschauern nicht so leicht nachvollziehbar: Fußtritte, Fauststöße und Schreie direkt aus der Körpermitte der Karatekas. Japanisches Gemurmel und fremde Handzeichen der Kampfrichter — wer hat jetzt eigentlich gewonnen und wenn ja, warum?

Also erstmal das Regelwerk in Kürze, bevor es auf die Matte geht: Erlaubt sind Techniken, die auf den Kopf, den Bauch oder den Rücken zielen. Der Kontakt zum Kopf ist im traditionellen Karate grundsätzlich verboten. Berührungen am Kopf werden daher — je nach Stärke — entweder ignoriert oder mit einer Verwarnung, einem Punkt für den Getroffenen bis hin zur Disqualifikation des „Durchhauers“ geahndet. Entsprechend ist das Verfahren bei unerlaubten Techniken, wie Tritten ins Knie oder Fauststößen zur Kehle.

Für eine erlaubte Technik gibt es aber nicht gleich einen Punkt. Da müssen die Haltung, die Kraft und das Timing stimmen, und auch das wird erstmal nur mit einem halben Punkt honoriert, dem „Wazaari“. Am Samstag gab es aber auch die „Ippon“-Techniken zu sehen. Den Ippon, den ganzen Punkt, gibt's für Angriffe, die technisch sauber und mit optimaler „Kime“ (also die Energie richtig auf den Punkt gebracht) ausgeführt werden und den Gegner so überraschen, daß er nicht mehr zur Gegenwehr fähig ist. Hajime!

Zehn Titel gab es bei den German Open zu gewinnen, doch die einzelnen Entscheidungen in den verschiedenen Gewichtsklassen sind nur unter höchster Konzentration zu verfolgen. Machen wir's also wie das Publikum und suchen wir uns die Lieblinge raus: Eindeutiger Star des Abends war Veysel Bugur. Er trat nicht nur mit den Vorschußlorbeeren eines Deutschen Meisters und Weltmeisterschaftsdritten 1990 an. Er ist das, was wir von Karatekas wollen: der David, der den Goliath schlägt.

Mit seinen mageren 60 Kilo holte sich Veysel nämlich nicht nur den Titel in der unteren Gewichtsklasse, sondern auch den der unbeschränkten Leiber, der sogenannten Allkategorie. Mit seinen Fußfegern brachte er auch die kräftigsten Herren aus dem Gleichgewicht und setzte mit einer Fausttechnik nach: Ippon. Der 26jährige zeigte flexible Techniken, eine unglaubliche Kondition und Konzentration sowie jede Menge Entschlossenheit. Mit zwei blauen Augen ging er in den letzten Kampf, aus dem er als strahlender Gewinner mit blutiger Lippe herauskam.

Bei den Frauen stand Firat Nurhant, die in Ingolstadt trainiert und für die Türkei startet, im Finale gegen die Berlinerin Birgit Tönnies. Und Birgits Fäuste sind verdammt schnell. Ihre Technik ist der „Zuki jodan“, der Fauststoß zum Kinn, der der 37jährigen den Titel in die „leere Hand“ (Karate) brachte. Firat Nurhant aber bekam begeisterten Publikumsapplaus und einen ganz besonderen Preis: Die Jury sprach ihr den Ehrenpreis für faires Kämpfen zu. Für diesen Preis mußte sie allerdings einiges wegstecken. Mindestens zwei Fäuste landeten pro Kampf auf ihrer Nase, ein Knie bekam sie in die Leiste. Doch sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, kam nur nach gewonnenem Kampf meist etwas kopfschüttelnd von der Matte. Fairneß kann ganz schön weh tun.

Karate ist aber nicht nur der freie Kampf zwischen zwei GegnerInnen. Zur Kampfkunst gehört auch die Kata — der Scheinkampf allein gegen mehrere imaginäre Gegner. Und was da in den Endkämpfen geboten wurde, begriffen auch die karateunkundigen unter den 1.800 Zuschauern. Dynamik und vollste Anspannung im Wechsel mit Geschmeidigkeit und atembetonten Techniken. Spannungsaufbau und Spannungsentladung auch beim Publikum: prickelnde Stille beim Vortrag der einzelnen TeilnehmerInnen und die Entladung in tosendem Beifall.

Einmal mehr waren sich aber bei den Kata-Wettkämpfen der Männer Publikum und Kampfrichter uneins. Gewinner nach Applaus war der Berliner Marek Kietbasa. Er schafft es, in jede einzelne Bewegung das hineinzulegen, was Karate ausmacht — ob es ein spektakulärer Sprung oder eine scheinbar triviale Ausholbewegung mit dem Arm ist. Ein einziger kleiner Fehler entlockte den Zuschauern ein gehauchtes Stöhnen und den Kampfrichtern den obligatorischen Punktabzug. Titel und Plazierungen sind im Karate aber sowieso nur Nebensache, denn schließlich ist der Weg das Ziel. Und deshalb gibt es auch am Ende des Wettkampftages unzählige Verbeugungen.

Frauen bis 55 kg: 1. Sari Laine (Finnland); bis 60 kg: 1. Sandra Schäfer (Ravensburg); über 60 kg: 1. Saskia Borst (Rottenburg); Allkategorie: 1. Birgit Tönnies (Berlin); Kata: 1. Monika Gütgemann (Bonn)

Männer bis 68 kg: 1. Veysal Bugur (Berlin); bis 78 kg: 1. Jürgen Möldner (Neumünster); über 78 kg: 1. Javier Rodriguez (Spanien); Allkategorie: 1. Veysal Bugur (Berlin); Kata: 1. Pasquale Acri (Italien).